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So Gut Wie Vorüber
Blake Pierce


„Ein Meisterwerk der Thriller und Mystery-Romane. Blake Pierce hat hervorragende Arbeit geleistet, indem er Charaktere entwickelt hat, die so gut beschrieben sind, dass wir uns in ihren Köpfen fühlen, ihren Ängsten folgen und ihren Erfolg herbeiwünschen. Dieses Buch garantiert Ihnen aufgrund der vielen Wendungen Spannung bis zur letzten Seite." – Bücher und Filmkritiken, Roberto Mattos (Verschwunden)

SO GUT WIE VORÜBER (DAS AU-PAIR—BUCH #1) ist der Debütroman einer neuen Psychothriller-Reihe des Bestsellerautors Blake Pierce, dessen Bestseller Verschwunden (kostenloser Download) über 1.000 Fünf-Sterne-Rezensionen hat.

Der erste Au-Pair-Job der 23-jährigen Cassandra Vale verschlägt sie auf den Gutshof einer wohlhabenden Familie außerhalb von Paris. Zuerst scheint alles zu gut, um wahr zu sein. Doch schon bald entdeckt sie hinter den goldenen Toren eine funktionsgestörte Familie, eine verdorbene Ehe, problembeladene Kinder – und Geheimisse, die zu dunkel sind, um enthüllt zu werden. Cassandra ist davon überzeugt, ein neues Leben beginnen zu können, als sie den Job als Au-Pair-Mädchen in der idyllischen Provinz Frankreichs annimmt. Der Landsitz der Dubois liegt gerade außerhalb von Paris und ist ein großartiges Relikt der Vergangenheit, das von einer Bilderbuchfamilie bewohnt wird. Genau das hat Cassandra gebraucht! Doch dann stößt sie auf deren dunkle Geheimnisse und erfährt, dass nicht alles so glamourös ist, wie es scheint. Hinter all dem Reichtum befindet sich ein dunkles Netz der Tücke und der List. Ein Netz, das Cassandra nur allzu bekannt vorkommt und Erinnerungen an eine Vergangenheit voller Qual und Gewalt in ihr auslöst. Eine Vergangenheit, die sie verzweifelt hinter sich zu lassen versucht. Als ein grässlicher Mord das Haus auseinandernimmt, droht auch ihre labile Psyche zu zerbrechen. Eine fesselnde Mystery-Geschichte mit komplexen Figuren, verdeckten Geheimnissen, dramatischen Wendungen und einer unglaublichen Spannung: SO GUT WIE VORÜBER ist das erste Buch der spannungsgeladenen Psycho-Thriller-Serie, die man gar nicht aus der Hand legen möchte.

Buch #2 – SO GUT WIE VERLOREN – kann nun vorbestellt werden!





Blake Pierce

So Gut Wie Vorüber



Copyright © 2019 durch Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer wie im US-amerikanischen Urheberrechtsgesetz von 1976 erlaubt, darf kein Teil dieser Veröffentlichung in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln reproduziert, verteilt oder übertragen werden oder in einer Datenbank oder einem Abfragesystem ohne die vorherige Genehmigung des Autors gespeichert werden. Dieses eBook ist nur für Ihren persönlichen Genuss lizenziert. Dieses eBook darf nicht weiterverkauft oder an andere Personen weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch für eine andere Person freigeben möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen und es nicht gekauft haben oder es nicht für Ihre Verwendung erworben wurde, geben Sie es bitte zurück und kaufen Sie Ihre eigene Kopie. Danke, dass Sie die harte Arbeit dieses Autors respektieren. Dieses Buch ist reine Fiktion. Namen, Charaktere, Geschäfte, Organisationen, Orte, Ereignisse und Ereignisse sind entweder das Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen lebenden oder toten Personen ist völlig zufällig.

Buchumschlagsbild Copyright cactus_camera, mit Lizenz von Shutterstock.com



Blake Pierce

Blake Pierce ist der Autor der meistverkauften RILEY PAGE Krimi-Serie, die 13 Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Blake Pierce ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Krimi-Serie, die neun Bücher umfasst (und weitere in Arbeit); der AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern; der KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern; der Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); der KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei Büchern (und weitere in Arbeit); der spannenden CHLOE FINE Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); und der spannenden JESSE HUNT Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit).

Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von seinen Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.








https://www.bookbub.com/authors/ophelia-night (https://www.bookbub.com/authors/ophelia-night)


BÜCHER VON BLAKE PIERCE

DAS AU-PAIR

SO GUT WIE VORÜBER (BAND #1)

SO GUT WIE VERLOREN (BAND #2)

SO GUT WIE TOT (BAND #3)



JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (BAND #1)

DER PERFEKTE BLOCK (BAND #2)

DAS PERFEKTE HAUS (BAND #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (BAND #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (BAND #5)



CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (BAND #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (BAND #2)

SACKGASSE (BAND #3)

STUMMER NACHBAR (BAND #4)



KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (BAND #1)

WENN SIE SÄHE (BAND #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (BAND #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (BAND #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (BAND #5)

WENN SIE SICH FÜRCHTEN WÜRDE (BAND #6)



DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (BAND #1)

WARTET (BAND #2)

LOCKT (BAND #3)

NIMMT (BAND #4)

LAUERT (BAND #5)



RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (BAND #1)

GEFESSELT (BAND #2)

ERSEHNT (BAND #3)

GEKÖDERT (BAND #4)

GEJAGT (BAND #5)

VERZEHRT (BAND #6)

VERLASSEN (BAND #7)

ERKALTET (BAND #8)

VERFOLGT (BAND #9)

VERLOREN (BAND #10)

BEGRABEN (BAND #11)

ÜBERFAHREN (BAND #12)

GEFANGEN (BAND #13)

RUHEND (BAND #14)

GEMIEDEN (BAND #15)

VERMISST (BAND #16)



EINE RILEY PAIGE KURZGESCHICHTE

EINST GELÖST



MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (BAND #1)

BEVOR ER SIEHT (BAND #2)

BEVOR ER BEGEHRT (BAND #3)

BEVOR ER NIMMT (BAND #4)

BEVOR ER BRAUCHT (BAND #5)

EHE ER FÜHLT (BAND #6)

EHE ER SÜNDIGT (BAND #7)

BEVOR ER JAGT (BAND #8)

VORHER PLÜNDERT ER (BAND #9)

VORHER SEHNT ER SICH (BAND #10)

VORHER VERFÄLLT ER (BAND #11)

VORHER NEIDET ER (BAND #12)



AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (BAND #1)

LAUF (BAND #2)

VERBORGEN (BAND #3)

GRÜNDE DER ANGST (BAND #4)

RETTE MICH (BAND #5)

ANGST (BAND #6)



KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (BAND #1)

EINE SPUR VON MORD (BAND #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (BAND #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (BAND #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (BAND #5)




Kapitel eins


Die dreiundzwanzigjährige Cassie Vale saß auf einem der beiden Plastikstühle im Wartebereich der Au-Pair-Agentur und starrte auf die Poster und Landkarten an der gegenüberliegenden Wand. Über dem kitschigen Maureens Europa Au-Pairs Logo hing ein Bild des Eifelturms und eines vom Brandenburger Tor. Daneben ein Café in einem gepflasterten Hinterhof und ein malerisches Dorf mit Blick auf das azurblaue Meer. Szenen zum Träumen; Orte, nach denen sie sich sehnte.

Das Agenturbüro war eng und erdrückend. Die Klimaanlage klapperte nutzlos vor sich hin und aus der Lüftung kam definitiv keine frische Luft. Cassie hob die Hand und wischte sich diskret einen Schweißtropfen von der Wange. Sie wusste nicht, wie lange sie es noch aushalten konnte.

Plötzlich öffnete sich die Tür und sie fuhr zusammen. Ihre Hand griff bereits nach den Unterlagen, die sie auf dem anderen Stuhl platziert hatte. Enttäuscht musste sie feststellen, dass es lediglich eine weitere Bewerberin war, die das Zimmer verließ. Dieses Mal handelte es sich um eine große, schlanke Blondine, die all die Zuversicht ausstrahlte, von der Cassie nur träumen konnte. Sie lächelte zufrieden und hielt ein Bündel offiziell aussehender Dokumente in der Hand. Cassie schenkte sie kaum Aufmerksamkeit, als sie an ihr vorbeiging.

Cassies Magen zog sich zusammen. Sie betrachtete ihre eigenen Unterlagen und fragte sich, ob auch sie erfolgreich sein oder das Büro enttäuscht und beschämt verlassen würde. Sie wusste, dass ihre Erfahrung jämmerlich und unzureichend war – schließlich hatte sie keine wirklichen Qualifikationen in der Kindesbetreuung vorzuweisen. In der Woche zuvor hatte sie sich bei einer Kreuzfahrtagentur vorgestellt und war abgelehnt worden. Ohne Erfahrung könnten sie sie nicht einmal in ihr Register aufnehmen. Wenn hier dieselben Richtlinien galten, hatte sie keine Chance.

„Cassandra Vale? Mein Name ist Maureen. Bitte kommen Sie herein.“

Cassie sah auf. Eine grauhaarige Frau in dunklem Anzug wartete im Türrahmen auf sie; es handelte sich offensichtlich um die Besitzerin der Agentur.

Cassie stand hastig auf und ihre sorgfältig geordneten Papiere verteilten sich auf dem Boden. Mit heißem Gesicht suchte sie sie zusammen und eilte dann in das Gesprächszimmer.

Während Maureen mit runzelnder Stirn durch ihre Unterlagen blätterte, begann Cassie, mit den Fingernägeln an ihrer Nagelhaut zu zupfen. Schließlich verschränkte sie die Finger – die einzige Möglichkeit, die nervöse Angewohnheit zu stoppen.

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen und versuchte, sich davon zu überzeugen, dass die Frau nicht ihre einzige Möglichkeit war, von hier zu verschwinden. Es würden sich auch andere Wege finden, um zu entkommen und von vorne anzufangen. Doch im Moment hatte sie das Gefühl, ihrer einzigen Hoffnung gegenüber zu sitzen. Die Kreuzfahrtagentur hatte sie rigoros abgelehnt. Ihre andere Idee, Englischunterricht zu geben, war ohne die richtigen Qualifikationen unmöglich; diese zu erhalten zu teuer. Sie würde ein weiteres Jahr sparen müssen, um überhaupt damit anfangen zu können. Doch genau das fehlte ihr gerade: Zeit. In der letzten Woche war ihr dieser Luxus genommen worden.

„Also, Cassandra. Sie sind in Millville, New Jersey aufgewachsen? Lebt Ihre Familie noch hier?“, fragte Maureen schließlich.

„Bitte nennen Sie mich Cassie“, antwortete sie. „Und nein, meine Familie ist weggezogen.“ Cassie drückte ihre Hände nun fester aneinander und machte sich Sorgen um die Richtung, die das Interview zu nehmen schien. Sie hatte nicht damit gerechnet, ausführlich zu ihrer Familie befragt zu werden, aber ihr wurde nun klar, dass natürlich der Background der Bewerber durchleuchtet werden musste. Schließlich würden die Au-Pairs in dem Zuhause ihrer Arbeitgeber leben und arbeiten. Sie musste sich schnell etwas überlegen, denn obwohl sie nicht lügen wollte, fürchtete sie doch, dass die Wahrheit ihrer Bewerbung schaden könnte.

„Und Ihre ältere Schwester? Sie schreiben hier, dass sie im Ausland arbeitet?“

Zu Cassies Erleichterung war Maureen zum nächsten Punkt übergegangen. Hierfür hatte sie sich eine Antwort zurechtgelegt, die ihre eigene Sache fördern würde, aber keine Details preisgab, deren Aufrichtigkeit bestätigt werden konnte.

„Die Reisen meiner Schwester haben mich auf jeden Fall dazu inspiriert, selbst im Ausland zu arbeiten. Ich wollte schon immer in einem anderen Land leben und liebe Europa. Besonders Frankreich, wo ich mit der Sprache doch recht vertraut bin.“

„Sie haben Französisch studiert?“

„Ja, zwei Jahre lang, aber ich habe auch davor schon ein enges Verhältnis zu der Sprache gehabt. Meine Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und arbeitete hin und wieder als freiberufliche Übersetzerin, als ich noch klein war. Meine Schwester und ich sind also mit einem guten Verständnis der französischen Sprache großgeworden.“

Maureen stellte ihr nun eine Frage auf Französisch: „Was erhoffen Sie sich von einer Position als Au-Pair?“

Cassie freute sich, in fließendem Französisch antworten zu können. „Mehr über das Leben in einem anderen Land zu lernen und meine Sprachfertigkeiten zu verbessern.“

Sie hatte gehofft, Maureen mit ihrer Antwort zu beeindrucken, doch die blieb ernst, während sie die Unterlagen weiter durchging.

„Leben Sie noch zu Hause, Cassie?“

Und wieder zurück zum Familienleben … hatte Maureen den Verdacht, dass sie ihr etwas verheimlichte? Sie musste sich ihre Antworten gut überlegen. Mit sechzehn von zu Hause auszuziehen, wie sie es getan hatte, würde bei der Agenturleiterin Fragen aufwerfen. Warum so früh? Gab es Probleme? Nein, sie musste ihr ein hübscheres Bild malen. Eines, das auf ein normales und glückliches Familienleben hindeutete.

„Ich lebe alleine, seitdem ich zwanzig bin“, sagte sie und fühlte, wie ihr Gesicht vor Scham rot wurde.

„Und Sie arbeiten Teilzeit? Wie ich sehe, haben Sie ein Zeugnis von Primi. Ist das ein Restaurant?“

„Ja, ich habe die vergangenen zwei Jahre dort gekellnert.“ Das war glücklicherweise wahr. Zuvor hatte sie verschiedene andere Tätigkeiten ausgeführt und sogar kurz in einer Spelunke gearbeitet, als sie Probleme hatte, WG-Zimmer plus Fernstudium zu bezahlen. Primi, ihr letzter Job, hatte ihr am meisten Spaß gemacht. Das Restaurant-Team war wie die Familie gewesen, die sie nie hatte. Aber sie hatte dort keine Zukunft. Ihr Gehalt war niedrig und das Trinkgeld nicht viel besser. Die Geschäfte in dem Teil der Stadt waren hart. Sie hatte sich darauf vorbereitet, nach etwas anderem Ausschau zu halten, wenn der richtige Moment gekommen war, doch die Umstände hatten sich zum Negativen verändert und nun war es auf einmal dringend.

„Erfahrung in der Kinderbetreuung?“, fragte Maureen und betrachtete Cassie über ihre Brillenränder hinweg. Cassies Bauch zog sich zusammen.

„Ich – ich habe drei Monate lang in einer Kindertagesstätte ausgeholfen, bevor ich bei Primi eingestiegen bin. Das Zeugnis ist im Ordner. Ich habe ein Grundlagentraining in Sicherheit und Erster Hilfe absolviert und auch mein Background wurde überprüft“, stammelte sie und hoffte, dass es ausreichte. Es war nur eine temporäre Anstellung gewesen, als sie für eine Frau im Mutterschutz kurzzeitig die Vertretung übernommen hatte. Sie hätte nie gedacht, dass daraus ein Sprungbrett in ihre Zukunft werden könnte.

„Ich habe auch Kinderpartys im Restaurant geleitet. Ich bin ein sehr freundlicher Mensch. Ich meine, ich komme gut mit anderen klar und bin geduldig …“

Maureens Mund wurde schmal. „Wie schade, dass Ihre Erfahrung nicht frischer ist. Außerdem haben Sie keine offizielle Bescheinigung einer Ausbildung in der Kinderbetreuung. Die meisten Familien verlangen Qualifikationen oder zumindest etwas mehr Erfahrung in dem Bereich. Es wird schwer werden, Sie mit diesen Voraussetzungen in einer Familie zu platzieren.“

Cassie sah sie verzweifelt an. Es musste einfach klappen. Ihre Aussichten waren glasklar. Entweder schaffte sie es, von hier zu entkommen … oder sie würde sich in einem Kreislauf der Gewalt verfangen, dem sie mit ihrem Auszug damals schon hatte entkommen wollen.

Die blauen Flecken auf ihrem Oberarm waren innerhalb der letzten Tage aufgeblüht und zeigten nun klar definiert die Knöchelabdrücke, wo er sie geschlagen hatte. Ihr Freund, Zane, der ihr bei ihrem zweiten Date gesagt hatte, dass er sie liebte und dass er sie immer beschützen würde.

Als die hässlichen Flecken erschienen waren, hatte sie sich mit einer Gänsehaut auf dem Rücken daran erinnert, vor zehn Jahren fast identische Blutergüsse gehabt zu haben. Zuerst an ihrem Arm. Dann ihrem Hals und schließlich in ihrem Gesicht. Ebenfalls von einem angeblichen Beschützer zugefügt – ihrem Vater.

Er hatte begonnen, sie zu schlagen, als sie zwölf Jahre alt war, nachdem Jacqui, ihre ältere Schwester, von zu Hause weggerannt war. Zuvor war Jacqui die Zielscheibe seiner Wut gewesen. Ihre Anwesenheit hatte Cassie vor dem Schlimmsten bewahrt.

Zanes Hämatome waren noch immer da; es würde eine Weile dauern, bis auch diese verblassten. Sie trug ein langärmeliges T-Shirt, um sie bei dem Gespräch zu verstecken und schwitzte in dem stickigen Büro.

„Gibt es andere Stellen, wo ich mich bewerben kann?“, fragte sie Maureen. „Ich weiß, dass dies die beste Agentur im Ort ist, aber vielleicht sind Sie ja in der Lage, eine Webseite zu empfehlen?“

„Nein“, sagte Maureen bestimmt. „Zu viele Kandidaten haben damit schlechte Erfahrungen gemacht. Manche endeten in Familien, wo ihre Arbeitsstunden nicht eingehalten wurden. Von anderen wurde erwartet, neben der Kinderbetreuung auch niedere Putzaufgaben zu erfüllen. Das ist keinem gegenüber fair. Ich habe auch von anderen Belästigungen Au-Pairs gegenüber gehört. Also, nein.“

„Bitte – gibt es denn in Ihren Unterlagen irgendjemanden, der mich in Betracht ziehen könnte? Ich bin fleißig, lerne schnell und kann mich gut anpassen. Bitte geben Sie mir eine Chance.“

Maureen schwieg für einen Moment, dann klopfte sie stirnrunzelnd gegen ihre Tastatur.

„Ihre Familie, was hält sie davon, Sie für ein Jahr an das Reisen zu verlieren? Haben Sie einen Freund, jemanden, den Sie zurücklassen müssten?“

„Ich habe kürzlich mit meinem Freund Schluss gemacht. Und ich war schon immer sehr unabhängig, meine Familie weiß das.“

Zane hatte geweint und sich entschuldigt, nachdem er sie am Arm getroffen hatte. Aber sie hatte nicht nachgegeben und stattdessen an die Warnung ihrer Schwester gedacht, die sie ihr vor langer Zeit mit auf den Weg gegeben und die sich seither stets als richtig erwiesen hatte: „Kein Mann schlägt eine Frau nur einmal.“

Sie hatte ihre Taschen gepackt und war bei einer Freundin eingezogen. Um ihm aus dem Weg zu gehen, hatte sie seine Anrufe blockiert und ihre Schicht im Restaurant geändert. Sie hatte gehofft, dass er ihre Entscheidung akzeptieren und sie alleine lassen würde. Doch tief drinnen war ihr klar gewesen, dass dem nicht so sein würde. Schluss zu machen hätte seine Idee sein sollen, nicht ihre. Sein Ego konnte mit der Zurückweisung nicht umgehen.

Er hatte bereits im Restaurant nach ihr gesucht. Der Manager hatte ihm erzählt, sie habe sich zwei Wochen Urlaub genommen, um nach Florida zu gehen. Dadurch hatte sie etwas Zeit gewonnen. Aber sie wusste, dass er die Tage zählte. Noch eine Woche, dann begänne seine Jagd aufs Neue.

Die USA fühlte sich plötzlich zu klein an, um ihm zu entkommen. Sie brauchte einen Ozean – einen großen – zwischen ihnen. Denn am schlimmsten war ihre Angst, schwach zu werden, ihm zu verzeihen und eine zweite Chance zu geben.

Maureen beendete die Durchsicht der Unterlagen und stellte Cassie dann einige Standardfragen, die leichter zu beantworten waren. Ihre Hobbies, regelmäßige Medikamenteneinnahme, ernährungsspezifische Einschränkungen oder Allergien.

„Ich habe keine Einschränkungen oder Allergien. Und keine gesundheitlichen Probleme.“

Cassie hoffte, dass ihre Tabletten für Angstzustände nicht dazu zählten. Es war vermutlich besser, diese nicht zu erwähnen. Sie war sich sicher, damit ein großes Fragezeichen hervorzurufen.

Maureen kritzelte eine Notiz in den Ordner.

„Was würden Sie tun, wenn die Kinder in Ihrer Obhut unfolgsam oder frech sind? Wie würden Sie die Situation klären?“

Cassie atmete tief durch.

„Nun, ich denke nicht, dass es eine Einheitsantwort auf diese Frage gibt. Wenn ein Kind unfolgsam ist, während es auf eine gefährliche Straße zurennt, ist ein anderer Ansatz angebracht, als wenn es um das Essen von Gemüse geht. Im ersten Beispiel würde ich das Kind so schnell wie möglich außer Gefahr bringen. Im zweiten würde ich argumentieren und verhandeln – warum magst du kein Gemüse? Liegt es am Aussehen oder am Geschmack? Möchtest du einen Bissen versuchen? Schließlich machen wir alle verschiedene Phasen beim Essen durch und wachsen früher oder später daraus hinaus.“

Maureen schien mit der Antwort zufrieden zu sein, doch die nächsten Fragen waren komplizierter.

„Was würden Sie tun, wenn die Kinder Sie anlügen? Wenn Sie Ihnen zum Beispiel erzählen, dass sie die Erlaubnis haben, etwas zu tun, obwohl die Eltern es ihnen verboten haben?“

„Ich würde ihnen sagen, dass es nicht erlaubt ist und gleichzeitig auch den Grund nennen, woher ich das weiß. Ich würde vorschlagen, gemeinsam mit den Eltern zu sprechen und die Regel innerhalb der Familie zu diskutieren, um den Kindern klar zu machen, warum es wichtig ist, sich daran zu halten.“ Cassie hatte das Gefühl, einen Drahtseilakt zu vollführen und hoffte, dass ihre Antworten akzeptabel waren.

„Cassie, wie würden Sie reagieren, wenn Sie einen Streit mitansehen müssen? Innerhalb einer Familie gibt es Zeiten, in denen nicht alle miteinander klarkommen.“

Cassie schloss für einen Moment ihre Augen und schob die Erinnerungen beiseite, die Maureens Worte in ihr ausgelöst hatten. Schreie, zerbrechendes Glas, wütende Nachbarn. Ein Stuhl, der unter den wackelnden Türgriff ihrer Schlafzimmertür gedrückt wurde. Der einzige, aber unsolide, Schutz, den sie finden konnte.

Doch gerade, als sie erklären wollte, wie sie sich und die Kinder in einem sicheren Raum einschließen und dann die Polizei rufen würde, fiel ihr ein, dass Maureen vermutlich nicht diese Art von Streit gemeint hatte. Warum sollte sie auch? Offensichtlich dachte sie an eine Diskussion, Worte, die aus Ärger und Wut gekeift, vielleicht auch mal geschrien wurden. Eine temporäre Reibung, keine endgültige Zerstörung.

„Ich würde versuchen, die Kinder außer Hörweite zu beschäftigen“, sagte sie und wählte ihre Worte vorsichtig. „Und ich würde die Privatsphäre der Eltern respektieren und mich zurückziehen. Schließlich sind Streitereien ein Teil des Lebens und ein Au-Pair hat kein Recht, Stellung zu beziehen oder sich einzumischen.“

Endlich hatte sie sich ein kleines Lächeln verdient.

„Eine gute Antwort“, sagte Maureen. Sie überprüfte erneut ihren Computer und nickte, als wolle sie ihre Entscheidung bestätigen.

„Es gibt nur eine Möglichkeit, die ich Ihnen anbieten kann. Eine Anstellung in einer französischen Familie“, sagte sie und Cassies Herz machte einen Sprung. Es fiel schmetternd zu Boden, als Maureen weiterredete. „Das letzte Au-Pair ist unerwartet nach nur einem Monat zurückgetreten und die Familie hat Schwierigkeiten, einen Ersatz zu finden.“

Cassie biss sich auf die Lippe. Sie wusste nicht, ob das Au-Pair gekündigt hatte oder gefeuert worden war. Aber sie konnte es sich nicht leisten, denselben Weg zu gehen. Die Agenturgebühren und die Flugreise kosteten sie ihr ganzes Erspartes. Es war egal, wie sie es anstellte, aber es musste funktionieren.

Maureen fügte hinzu: „Es ist eine wohlhabende Familie mit einem wunderschönen Zuhause etwas außerhalb von Paris. Das Herrenhaus liegt im ländlichen Raum auf einem großen Grundbesitz. Es gibt einen Obstgarten und einen Weinberg – nicht kommerziell – und Pferde. Reiterliches Fachwissen ist allerdings keine Jobvoraussetzung. Sie haben jedoch die Möglichkeit, reiten zu lernen, wenn Sie das möchten.

„Sehr gerne“, sagte Cassie. Der Reiz der französischen Provinz und die Aussicht auf Pferde machte das Risiko lohnenswert. Und eine wohlhabende Familie bedeutete doch sicher mehr Jobsicherheit. Vielleicht war das letzte Au-Pair einfach nicht willig gewesen, es zu versuchen.

Maureen richtete ihre Brille gerade, bevor sie auf Cassies Unterlagen etwas notierte.

„Ich muss betonen, dass nicht jede Familie einfach ist. Manche sind sehr herausfordernd und andere sogar richtig schwierig. Der Erfolg des Jobs liegt auf Ihren Schultern.“

„Ich werde mein Bestes geben.“

„Eine Anstellung zu verlassen bevor das Jahr vorbei ist, ist nicht akzeptabel. Eine substantielle Kündigungsgebühr wird dann auf Sie zukommen, außerdem werden Sie nie wieder für uns arbeiten können. Die Details stehen im Vertrag.“ Maureen klopfte mit ihrem Stift gegen die Seite.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete Cassie bestimmt.

„Gut. Der letzte Punkt, den wir besprechen müssen, ist die Timeline.“

„Ja. Wie bald werde ich abreisen?“, fragte Cassie und wurde wieder unruhig bei dem Gedanken daran, Verstecken zu spielen.

„Für gewöhnlich dauert es etwa sechs Wochen, bis alles geregelt ist, aber diese Familie hat es sehr eilig, also werden wir den Prozess beschleunigen. Wenn alles nach Plan läuft, werden Sie innerhalb der nächsten Woche abfliegen. Ist das in Ordnung?“

„Das ist – es ist perfekt“, stotterte sie. „Bitte, ich nehme die Position an. Ich werde alles tun, um meinen Job gut zu machen und sie nicht enttäuschen.“

Die Frau starrte sie lange und intensiv an, als versuche sie, die Lage ein letztes Mal zu erfassen.

„Das will ich auch hoffen“, sagte sie.




Kapitel zwei


An Flughäfen geht es nur um Abschiede, dachte Cassie. Hektische Verabschiedungen in einer unpersönlichen Umgebung, die dir die Worte raubt, die du wirklich sagen willst. Und die Zeit, sie richtig zu sagen.

Sie hatte darauf bestanden, von der Freundin, die sie zum Flughafen gebracht hatte, vor dem Gebäude rausgelassen zu werden. Die Umarmung, bevor sie aus dem Wagen hüpfte, war schnell und einfach. Besser als teurer Kaffee und eine unbequeme Unterhaltung, die trockener wird, je näher die Abflugzeit rückt. Schließlich reiste sie alleine und ließ alles Vertraute hinter sich zurück. Es machte Sinn, diesen Prozess so schnell wie möglich zu beginnen.

Als Cassie den Gepäckwagen zum Terminal schob, fühlte sie eine Welle der Erleichterung über sich schwappen, als sie daran dachte, was sie schon erreicht hatte. Sie hatte den Job bekommen, was die wichtigste Errungenschaft überhaupt gewesen war. Dann hatte sie für den Flug und die Agenturgebühren bezahlt, im Schnelldurchlauf ein Visum bekommen und pünktlich zum Einchecken den Flughafen erreicht. Ihre Sachen hatte sie mithilfe der bereitgestellten Liste gepackt und sie war froh, den hellblauen Rucksack mit dem ‚Maureens Au-Pairs‘-Logo bekommen zu haben. In ihren Koffer hätten ihre Klamotten nicht alle gepasst.

Sie war sich sicher, dass bis zu ihrer Landung in Paris alles gut gehen würde.

Dann sah sie ihn und sie blieb stehen. Ihr Herz klopfte wie wild.

Er stand am Terminaleingang mit dem Rücken zur Wand und den Daumen in den Taschen der Lederjacke, die sie ihm geschenkt hatte. Seine Größe, sein dunkles, stacheliges Haar und sein aggressiver Kiefer ließen ihn aus der Menge herausstechen.

Zane.

Er musste herausgefunden haben, wann ihr Flug ging. Sie hatte von Freunden gehört, dass er sich nach ihr erkundigt, Telefongespräche geführt und die Florida-Geschichte überprüft hatte. Zane hatte eine manipulative Ader und nicht jeder kannte ihre Situation. Jemand musste ihm, ohne böse Absicht, die Wahrheit erzählt haben.

Bevor er sie erblicken konnte, drehte sie ihren Gepäckwagen um und warf sich die Kapuze ihres Hoodies über ihr welliges, kastanienbraunes Haar. Sie eilte in die entgegengesetzte Richtung, schob den Wagen hinter eine Säule und damit außerhalb seines Blickfelds.

Der Air France Schalter befand sich am Ende des Terminals; es war also unmöglich, dorthin zu gelangen, ohne von ihm gesehen zu werden.

Denk nach, Cassie. In der Vergangenheit hatte Zane sie für ihre Fähigkeit, in schwierigen Situationen schnell einen Plan entwerfen zu können, gelobt. „Du reagierst schnell“, hatte er gesagt. Das war am Anfang ihrer Beziehung gewesen. Am Ende hatte er sie verbittert beschuldigt, hinterhältig, fies und zu gerissen zu sein.

Ok, dann wollte sie ihre Gerissenheit mal auf die Probe stellen. Sie atmete tief durch und hoffte auf eine Idee. Zane stand in der Nähe des Terminaleingangs. Warum? Es wäre einfacher gewesen, am Check-In-Schalter zu warten, wo er sie mit Sicherheit entdeckt hätte. Das bedeutete, er wusste nicht, mit welcher Airline sie fliegen würde. Sein Informant hatte es also entweder selbst nicht gewusst oder es ihm nicht gesagt. Wenn sie einen anderen Weg zum Schalter finden konnte, wäre sie vielleicht in der Lage, einzuchecken, bevor er begann, nach ihr zu suchen.

Cassie lud ihr Gepäck ab, setzte sich den schweren Rucksack auf die Schultern und zog den Koffer hinter sich her. Am Eingang des Gebäudes hatte sie eine Rolltreppe gesehen. Wenn sie damit zum obersten Stockwerk fuhr, könnte sie vielleicht mit einer weiteren Rolltreppe oder einem Aufzug am anderen Ende der Halle wieder nach unten fahren.

Sie ließ den Gepäckwagen stehen und eilte in die Richtung, aus der sie gekommen war, um die Rolltreppe nach oben zu nehmen. Die Treppe am anderen Ende war außer Betrieb, also kletterte sie die steilen Stufen samt schwerem Koffer nach unten. Der Air France Schalter war nun direkt vor ihrer Nase, aber zu ihrem Entsetzen befand sich davor bereits eine lange Schlange, die sich nur stockend vorwärtsbewegte.

Sie zog die graue Kapuze tiefer ins Gesicht, stellte sich in die Schlange, nahm ein Buch aus ihrer Handtasche und begann zu lesen. Sie verstand nicht, was sie las und unter der Kapuze war es drückend heiß. Sie wollte sie runterziehen und den Schweiß auf ihrem Nacken kühlen. Aber das konnte sie nicht riskieren. Ihr leuchtendes Haar wäre sofort sichtbar. Es war besser, versteckt zu bleiben.

Dann klopfte ihr eine starke Hand auf die Schulter.

Sie wirbelte keuchend herum und starrte in die überraschten Augen einer großen Blondine, die etwa in ihrem Alter war.

„Tut mir leid, dich erschreckt zu haben“, sagte sie. „Ich bin Jess. Ich habe deinen Rucksack gesehen und wollte hallo sagen.“

„Oh. Ja. Maureens Au-Pairs.“

„Bist du auf dem Weg zu einem Job?“, fragte Jess.

„Das bin ich.“

„Ich auch. Sollen wir fragen, ob die Airline uns zusammensetzt? Das können wir beim Einchecken klären.“

Während Jess über das Wetter in Frankreich plapperte, sah Cassie sich nervös in der Terminalhalle um. Sie wusste, dass Zane nicht einfach so aufgeben würde – nicht, nachdem er sich die Mühe gemacht hatte, herzufahren. Er würde etwas von ihr wollen, eine Entschuldigung vielleicht oder eine Zusage. Er würde sie dazu bringen, mit ihm einen ‚Abschiedsumtrunk‘ zu nehmen und dann einen Streit anfangen. Es würde ihn nicht interessieren, wenn sie mit frischen Hämatomen in Frankreich ankäme … oder ihren Flug einfach verpasste.

Und dann sah sie ihn. Er war auf dem Weg in ihre Richtung und nur noch ein paar Schalter entfernt, während er jede Schlange sorgfältig nach ihr absuchte.

Sie drehte sich schnell weg, für den Fall, dass er ihren Blick spüren konnte. Mit einem Hoffnungsschimmer sah sie, dass sie das Ende der Schlange erreicht hatte.

„Ma’am, die müssen Sie abnehmen“, sagte die Dame am Schalter und deutete auf Cassies Kapuze.

Widerwillig schob sie sie nach hinten.

„Hey, Cass!“, rief Zane.

Cassie erstarrte und wusste, dass eine Antwort Desaster bedeuten würde.

Tollpatschig vor Nervosität ließ sie ihren Reisepass fallen. Als sie sich danach bückte, rutschte ihr kopflastiger Rucksack nach vorne.

Ein weiterer Ausruf. Und dieses Mal sah sie ihn an.

Er hatte sie gesehen und schob sich mithilfe seiner Ellbogen durch die Schlange. Die Passagiere wurden wütend; sie konnte ihre erhobenen Stimmen hören. Zane verursachte einen Tumult.

„Wir würden gerne zusammensitzen“, erklärte Jess der Dame am Schalter. Cassie biss sich auf die Lippen, weil das eine zusätzliche Verzögerung bedeutete.

Zane rief wieder und sie realisierte panisch, dass er sie in wenigen Momenten erreicht hätte. Er würde sie mit viel Charme und Liebreiz anbetteln, ihm eine Chance zu geben. Nur um zu reden. Er würde ihr versichern, dass er lediglich eine Minute mit ihr alleine brauchte, um ihr zu sagen, was er sagen wollte. Sie wusste aus Erfahrung, dass es sein Ziel war, mit ihr alleine zu sein. Dann würde sein Charme verschwinden.

„Wer ist der Kerl?“, fragte Jess neugierig. „Meint er dich?“

„Mein Ex-Freund“, murmelte Cassie. „Ich habe versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich will nicht, dass er vor meinem Abflug noch Ärger macht.“

„Aber das tut er doch bereits!“ Jess wirbelte zornig herum.

„Security!“, rief sie. „Hilfe! Halten Sie diesen Mann auf!“

Von ihren Rufen aufgerüttelt, packte einer der anderen Passagiere Zane an der Jacke, als dieser sich vorbeidrängte. Er rutschte mit wild fuchtelnden Armen auf den Fliesen aus und zog einen der Pfähle mit sich, als er fiel.

„Haltet ihn fest“, meinte Jess. „Security, schnell!“

Erleichtert stellte Cassie fest, dass die Sicherheitsbeamten tatsächlich alarmiert worden waren. Zwei Flughafen-Polizisten eilten in ihre Richtung. Sie würden rechtzeitig da sein, bevor Zane sie erreichen oder wegrennen konnte.

„Ich wollte nur meiner Freundin auf Wiedersehen sagen“, redete Zane los. Doch seine Charme-Versuche trafen bei dem Duo auf Granit.

„Cassie“, rief er, während der größere Beamte ihn am Arm packte. „Au revoir.“

Widerwillig sah sie ihn an.

„Au revoir! Das ist kein Abschied“, rief er, während er von den Polizisten abgeführt wurde. „Wir werden uns wiedersehen. Eher als du denkst. Pass auf dich auf.“

Sie hörte die Warnung in Zanes letzten Worten, aber fürs erste waren es leere Drohungen.

„Vielen, vielen Dank“, sagte sie voller Dankbarkeit für ihre mutige Aktion zu Jess.

„Ich hatte auch mal eine ungesunde Beziehung“, meinte Jess mitfühlend. „Ich weiß, wie besitzergreifend sie sein können. Sie kleben wie Klettverschluss. Es war mir ein Vergnügen, ihn aufzuhalten.“

„Lass uns durch die Passkontrolle gehen, bevor er einen Weg zurückfindet. Ich schulde dir einen Drink. Was möchtest du? Kaffee? Bier? Wein?“

„Wein natürlich“, sagte Jess, während sie durch die Absperrung zum Gate gingen.



„Also, wohin verschlägt es dich?“, fragte Cassie, nachdem sie ihren Wein bestellt hatten.

„Dieses Mal geht es für mich zu einer Familie in Versailles. In die Nähe des Palastes, wenn ich richtig liege. Ich hoffe, mir den an einem freien Tag ansehen zu können.“

„Dieses Mal? Warst du schonmal als Au-Pair angestellt?“

„Ja, aber es hat nicht funktioniert.“ Jess ließ einen Eiswürfel in ihr Glas fallen. „Die Familie war furchtbar. Das hat mich auch davon abgehalten, mich jemals wieder über Maureens Au-Pairs vermitteln zu lassen. Ich bin jetzt bei einer anderen Agentur. Aber keine Sorge“, fügte sie hastig hinzu. „Ich bin mir sicher, du wirst keine Probleme haben. Maureen muss einige guten Kunden in ihrem Register haben.“

Cassies Mund war plötzlich ganz trocken, schnell nahm sie einen großen Schluck Wein.

„Ich dachte, sie sei seriös. Schließlich lautet ihr Slogan The Premier European Agency – Die Führende Agentur Für Europa.“

Jess lachte. „Naja, das ist nur Marketing. Ich habe schon ganz andere Dinge gehört.“

„Was ist mit dir passiert?“, fragte Cassie. „Bitte erzähle es mir.“

„Nun, die Stellenbeschreibung klang ganz gut, auch wenn einige Fragen, die Maureen mir gestellt hat, etwas besorgniserregend klangen. Sie waren so seltsam, dass ich begann, mich zu fragen, ob mit der Familie etwas nicht stimmte. Keiner meiner Au-Pair-Freunde musste bei den Gesprächen je solche Fragen beantworten. Und als ich ankam – nun, die Situation war nicht so wie beschrieben.“

„Warum nicht?“ Cassie war inzwischen eiskalt. Sie hatte Maureens Fragen auch komisch gefunden. Zu dem Zeitpunkt hatte sie angenommen, dass jeder Bewerber dasselbe durchstehen musste, dass es ein Test ihrer Fähigkeiten war. Und vielleicht war es das auch gewesen … aber nicht aus den Gründen, die sie sich vorgestellt hatte.

„Die Familie war extremst ungesund“, sagte Jess. „Sie war respektlos und erniedrigend. Meine Aufgaben lagen weit außerhalb der Grenzen meines Jobs, aber das interessierte sie nicht und sie weigerten sich, daran etwas zu ändern. Als ich ankündigte, zu gehen, begannen die richtigen Probleme.“

Cassie biss sich auf die Lippe. Sie hatte als Kind ähnliche Erfahrungen gemacht, erinnerte sich an erhobene Stimmen hinter geschlossenen Türen, leise Streitereien im Wagen und die allgegenwärtige Spannung in der Luft. Sie hatte sich immer gefragt, warum ihre Mutter, die so still, unterwürfig und geschlagen wirkte, mit ihrem aufgeblasenen, aggressiven Mann stritt. Erst nach dem Verkehrsunfalltod ihrer Mutter hatte Cassie realisiert, dass es bei den Diskussionen darum gegangen war, den Frieden zu wahren, der Situation Herr zu werden und Cassie und ihre Schwester von den unvorhersehbaren und unbegründeten Aggressionen ihres Vaters zu schützen. Ohne die Anwesenheit ihrer Mutter hatte sich der schmorende Konflikt in einen ausgewachsenen Krieg entwickelt.

Sie hatte sich vorgestellt, als Au-Pair einer glücklichen Familie angehören zu können, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Jetzt fürchtete sie, das Gegenteil könnte der Fall werden. Sie war nie in der Lage gewesen, zu Hause den Frieden zu wahren. Wäre sie fähig dazu, eine unbeständige Situation zu managen, wie ihre Mutter es getan hatte?

„Ich mache mir Sorgen um meine Familie“, gab Cassie zu. „Auch mir wurden bei dem Interview seltsame Fragen gestellt – und das letzte Au-Pair hat die Familie frühzeitig verlassen. Was passiert, wenn ich dasselbe tun muss? Ich will nicht dabei sein, wenn die Situation zu sehr aus dem Ruder gerät.“

„Geh nur im Notfall“, warnte Jess sie. „Ein vorzeitiges Verlassen der Familie wird einen massiven Konflikt verursachen und einiges an Geld kosten. Denn du wirst für zusätzliche Kosten verantwortlich gemacht. Das hat mich fast davon abgehalten, es erneut zu versuchen. Ich war sehr zögerlich, diesen Auftrag anzunehmen. Wenn mein Dad dieses Mal nicht für alles gezahlt hätte, wäre ich nicht dazu in der Lage gewesen.“

Sie stellte ihr Weinglas ab.

„Sollen wir uns auf den Weg zum Gate machen? Wir sind ziemlich weit hinten im Flugzeug, also werden wir in der ersten Gruppe sein, die an Bord gehen darf.“

Die Aufregung des An-Bord-Gehens lenkte Cassie von dem Gespräch ab und sobald sie ihre Plätze eingenommen hatten, redeten sie über andere Dinge. Als das Flugzeug abhob, spürte sie, wie ihre Stimmung sich ebenfalls hob – einfach, weil sie es getan hatte. Sie hatte das Land verlassen, war Zane entkommen und in der Luft auf dem Weg in ein fremdes Land. Ihr Neustart hatte begonnen.

Erst nach dem Abendessen begann sie, intensiver über die Details ihres Auftrags nachzudenken, ebenso wie über die Warnungen, die Jess ausgesprochen hatte. Ihre Bedenken kamen zurück.

Nicht jede Familie konnte schlecht sein, oder?

Aber was, wenn diese Agentur den Ruf hatte, schwierige Familien zu akzeptieren? Dann wären die Chancen, selbst einen komplizierten Fall zu erwischen, um einiges höher.

Cassie versuchte, zu lesen, aber merkte schnell, dass sie sich nicht auf die Worte konzentrieren konnte. Ihre Gedanken rasten und sie machte sich Sorgen, was sie erwartete.

Sie sah kurz zu Jess hinüber. Nachdem sie sichergestellt hatte, dass diese mit ihrem Film beschäftigt war, zog Cassie diskret ihre Pillenflasche aus der Tasche und schluckte eine mit dem letzten Schluck ihrer Cola Light. Wenn sie schon nicht lesen konnte, war es vermutlich am besten, zu schlafen. Sie schaltete ihr Licht aus und lehnte sich zurück.


* * *

Cassie fand sich in einem zugigen Dachgeschosszimmer wieder, wo sie sich mit dem Rücken gegen die kalte, raue Wand unter dem Bett verzogen hatte.

Betrunkenes Gelächter, dumpfe Schläge und Schreie kamen von unten. Eine Orgie, die sich jeden Moment in Gewalt verwandeln konnte. Ihre Ohren warteten angestrengt auf das Zerbrechen von Glas. Sie erkannte die Stimme ihres Vaters und der seiner neuesten Freundin, Deena. Sie waren mindestens zu viert da unten, vielleicht sogar mehr.

Und dann, durch die Schreie hindurch, hörte sie das Krachen der Dielenbretter, als schwere Schritte die Treppe hinaufstiegen.

„Hey, kleiner Schatz“, flüsterte eine tiefe Stimme und ihr zwölfjähriges Selbst zuckte vor Angst zusammen. „Bist du da, Mädchen?“

Sie drückte ihre Augen fest zusammen und redete sich ein, dass es nur ein Albtraum war, dass sie sicher im Bett lag und die fremden Menschen unten dabei waren, zu gehen.

Langsam und quietschend öffnete sich die Tür und im Mondschein sah sie einen großen Stiefel.

Die Schritte kamen näher.

„Hey, Mädchen.“ Ein rauchiges Flüstern. „Ich bin hier, um hallo zu sagen.“

Sie schloss die Augen und betete, dass er ihren schnellen Atem nicht hören konnte.

Das Rascheln der Bettdecke, als er sie zurückzog … das überraschte Grunzen, als er lediglich Kissen und Mantel entdeckte, die sie darunter drapiert hatte.

„Unterwegs“, murmelte er. Sie nahm an, dass er die schmierigen Vorhänge betrachtete, die im Wind wehten. Das Regenrohr deutete auf eine heikle Fluchtroute hin. Nächstes Mal würde sie den Mut finden, hinunter zu klettern. Es konnte nicht schlimmer sein, als sich hier zu verstecken.

Die Stiefel verschwanden aus ihrem Blickfeld. Musik dröhnte von unten, gefolgt von einer lauten Diskussion.

Im Raum war es still.

Sie zitterte. Wenn sie vorhatte, die Nacht in ihrem Versteck zu verbringen, brauchte sie eine Decke. Vermutlich war es am besten, sich gleich darum zu kümmern. Sie löste sich von der Wand.

Doch als sie die Finger unter dem Bett herausschob, wurde sie von einer rauen Hand gepackt.

„Hier bist du!“

Er zog sie heraus, während sie sich an dem Bettrahmen festklammerte. Das kalte, raue Eisengestell schmerzte in ihren Händen und sie begann, zu schreien. Ihre angsterfüllten Schreie füllten das Zimmer, das Haus …

Schwitzend und schreiend wachte sie auf und hörte die besorgte Stimme ihrer Nachbarin. „Hey, Cassie. Bist du okay?“

Der Albtraum wirkte noch immer nach und wartete darauf, sie zurück zu ziehen. Sie konnte die Schürfwunden an ihrem Arm spüren, wo das rostige Bettgestell sie verletzt hatte. Sie legte ihre Finger darauf und war erleichtert, ungebrochene Haut vorzufinden. Sie öffnete ihre Augen weiter und schaltete das Licht an, um die Dunkelheit zu verscheuchen.

„Alles gut. Nur ein böser Traum, das ist alles.“

„Möchtest du etwas Wasser? Oder Tee? Ich kann die Stewardess rufen.“

Cassie wollte zuerst höflich ablehnen, aber dann erinnerte sie sich daran, ihre Medikamente zu nehmen. Wenn eine Tablette nicht wirkte, waren zwei normalerweise ausreicehnd, um die Albträume aufzuhalten.

„Wasser wäre prima, danke“, sagte sie.

Sie wartete, bis Jess nicht hinsah und schluckte schnell eine weitere Pille.

Sie versuchte nicht, wieder einzuschlafen.



Während der Landung tauschte sie mit Jess Handynummern aus. Und nur für den Notfall schrieb sie sich auch den Namen und die Adresse der Familie, für die Jess arbeiten würde, auf. Cassie sagte sich selbst, dass es wie eine Versicherung war – wenn sie sie hatte, würde sie sie hoffentlich nicht brauchen. Sie versprachen einander, bei der ersten Gelegenheit zusammen das Schloss von Versailles zu besichtigen.

Als sie auf dem Rollfeld des Charles de Gaulle Flughafen parkten, lachte Jess aufgeregt. Schnell zeigte sie Cassie ein Selfie ihrer Familie, das diese beim Warten aufgenommen hatte. Das attraktive Paar und die zwei Kinder lächelten und hielten ein Schild mit dem Namen ‚Jess‘ hoch.

Cassie hatte keine Nachricht erhalten. Maureen hatte ihr lediglich gesagt, dass man sie am Flughafen treffen würde. Der Gang zur Passkontrolle kam ihr ewig vor. Sie war von dem Geplapper der Gespräche in verschiedenen Sprach umgeben und als sie versuchte, dem Pärchen zuzuhören, das neben ihr lief, realisierte sie, wie wenig gesprochenes Französisch sie tatsächlich zu verstehen in der Lage schien. Die Realität war so anders wie Schulunterricht und Sprachaudiotapes. Sie hatte Angst, fühlte sich einsam und unausgeschlafen. Als sie sich mit den elegant gekleideten, französischen Reisenden verglich, wurde ihr plötzlich bewusst, wie verknittert und vollgeschwitzt ihre Kleidung war.

Sobald sie ihre Koffer hatte, eilte sie auf die Toilette, zog sich ein frisches Oberteil an und machte ihre Haare zurecht. Sie fühlte sich immer noch nicht bereit, ihre Familie zu treffen und hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Maureen hatte ihr erzählt, dass das Haus über eine Stunde Fahrzeit vom Flughafen entfernt lag. Vielleicht waren die Kinder also nicht mitgekommen. Sie würde nach keiner großen Familie Ausschau halten, irgendein freundliches Gesicht reichte ihr.

Doch in dem Menschenmeer schien niemand auf sie zu warten, obwohl sie ihren ‚Maureens Au-Pairs‘-Rucksack gut sichtbar auf dem Gepäckwagen platziert hatte. Langsam ging sie vom Gate in die Ankunftslounge und sah sich nervös nach jemandem um, der sie erkannte, ihr zuwinkte oder ihren Namen rief.

Aber jeder schien auf jemand anderen zu warten.

Mit kalten Händen am Griff des Gepäckwagens durchkreuzte Cassie die Ankunftshalle im Zickzack und durchsuchte die langsam kleiner werdende Menge. Maureen hatte sie nicht auf diese Situation vorbereitet. Sollte sie jemanden anrufen? Würde ihr Handy in Frankreich überhaupt funktionieren?

Und dann, als sie eine letzte, panische Runde durch die Halle drehte, sah sie es.

„CASSANDRA VALE.“

Ein kleines Notizbrett, das von einem schlanken, dunkelhaarigen Mann in schwarzer Jacke und Jeans gehalten wurde.

Er stand in der Nähe der Wand, war auf sein Handy konzentriert und sah sich nicht einmal nach ihr um.

Sie ging unsicher auf ihn zu.

„Hi – ich bin Cassie. Sind Sie …?“. Ihre Worte verebbten, als sie realisierte, dass sie keine Ahnung hatte, wer er sein könnte.

„Ja“, sagte er mit stark französisch akzentuiertem Englisch. „Hier entlang.“

Sie wollte sich gerade anständig vorstellen und das vortragen, was sie einstudiert hatte – wie aufgeregt sie war, ein Teil der Familie zu werden – als sie das laminierte Schild auf seiner Jacke sah. Er war lediglich ein Taxifahrer und die Karte sein offizieller Flughafenpass.

Die Familie hatte sich nicht einmal bequemt, sie selbst von Flughafen abzuholen.




Kapitel drei


Vor Cassies Augen wurde die Stadtlandschaft von Paris sichtbar. Hohe Wohngebäude und düstere Industrieblöcke verwandelten sich langsam in die baumreiche Vorstadt. Der Nachmittag war kalt und grau und stellenweise regnete und windete es.

Sie reckte ihren Hals, um die vorbeiziehenden Schilder sehen zu können. Sie fuhren in Richtung Saint Maur und zeitweise glaubte sie, ihr Reiseziel könnte dort liegen. Doch der Fahrer fuhr an der Ausfahrt vorbei und folgte weiter der Straße aus der Stadt hinaus.

„Wie weit ist es noch?“, fragte sie, um ein Gespräch zu beginnen. Doch er grunzte nur unbestimmt und drehte das Radio lauter.

Der Regen klopfte gegen die Fenster und sie spürte das kalte Glas an ihrer Wange. Sie wünschte sich ihre dicke Jacke aus dem Kofferraum herbei. Außerdem hatte sie einen Bärenhunger – sie hatte kein Frühstück gegessen und seither keine Gelegenheit gefunden, sich etwas zu essen zu kaufen.

Nach über einer halben Stunde erreichten sie das offene Land und fuhren am Ufer der Marne entlang. Bunt bemalte Binnenschiffe waren die einzigen Farbtupfer in der Trübheit. Nur wenige Menschen in Regenjacken liefen unter den Bäumen. Einige der Bäume waren bereits kahl, andere trugen noch immer rostbraune und goldene Blätter.

„Ziemlich kalt heute, nicht wahr?“, bemerkte sie und versuchte sich erneut an einer Unterhaltung mit dem Fahrer.

Seine einzige Antwort bestand aus einem gemurmelten ‚oui‘, doch wenigstens schaltete er die Heizung an und ihr Zittern stoppte. In der Wärme des Wagens nickte sie unruhig ein, während sie Kilometer für Kilometer zurücklegten.

Eine scharfe Bremsung und ein schrilles Hupen ließen sie aufschrecken. Der Fahrer schob sich an einem stehenden LKW vorbei, verließ den Highway und bog auf eine schmale, mit Bäumen gesäumte, Straße ab. Der Regen hatte sich verzogen und das frühabendliche Licht malte den Herbst in wunderschönen Farben. Cassie sah aus dem Fenster, bewunderte die hügelige Landschaft und das Patchwork aus Feldern und riesigen, dunklen Wäldern. Sie fuhren an einem Weinbaugebiet vorbei, wo die ordentlichen Rebenreihen sich am Hügel entlangschlängelten.

Mit verlangsamter Geschwindigkeit passierte der Fahrer ein Dorf. Helle Steinhäuser mit gebogenen Fenstern und steilen Ziegeldächern standen an der Straße. Dahinter sah sie offene Felder und als sie an einer Steinbrücke vorbeikamen, erhaschte sie einen Blick auf den Kanal, der von Trauerweiden gesäumt war. Die hohe Kirchturmspitze zog sie in ihren Bann und sie fragte sich, wie alt das Gebäude war.

Sie mussten nun bald da sein, vielleicht befand sich das Anwesen ja sogar in dieser Nachbarschaft. Doch sie verabschiedete sich schnell von dieser Vermutung, als sie das Dorf verließen und sich immer weiter durch die hügelige Landschaft bewegten. Schließlich hatte sie die Orientierung ganz verloren und auch die Spitze des Kirchturms war nun nicht mehr sichtbar. Das GPS wies darauf hin, kein Signal mehr zu haben und der Fahrer brummte verärgert. Schließlich nahm er sein Handy und betrachtete konzentriert die Karte, während er fuhr.

Und dann bogen sie rechts ab und fuhren zwischen zwei hohen Torpfosten hindurch. Cassie setzte sich aufrechter hin und starrte auf die lange Kieseinfahrt. Vor ihnen lag mächtig und elegant das Anwesen – die untergehende Sonne beleuchtete auf atemberaubende Weise die Steinwände.

Die Reifen knirschten auf dem Kies, als der Wagen vor einem großen und einschüchternden Eingang zum Stehen kam. Sie wurde nervös; das Gebäude war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Es war wie ein Palast mit hohen Schornsteinen und kunstvoll verzierten Türmchen. Sie zählte an der eindrucksvollen Front achtzehn Fenster mit aufwändiger Steinarbeit und vielen Details. Das Haus selbst überblickte einen gepflegten Garten mit sorgfältig getrimmten Hecken und befestigten Wegen.

Wie konnte sie sich mit einer Familie identifizieren, die so prachtvoll wohnte, wo sie doch selbst mit Nichts aufgewachsen war?

Sie realisierte, dass der Fahrer ungeduldig mit den Fingern gegen das Lenkrad klopfte. Offensichtlich würde er ihr nicht mit ihren Koffern helfen. Schnell kletterte sie aus dem Wagen.

Im gnadenlosen Wind fror sie sofort und eilte zum Kofferraum, um ihren Koffer herauszuheben, ihn über den Kies zu zerren und sich dann unter dem Vordach unterzustellen, um sich die Jacke zuzuziehen.

Es gab keine Klingel an der großen Holztür, lediglich einen großen Türklopfer aus Eisen, der kalt in ihrer Hand lag. Das Geräusch war überraschend laut und nur wenige Augenblicke später hörte Cassie Schritte.

Die Tür öffnete sich und vor ihr stand eine Hausangestellte in dunkler Uniform mit eng zurückgebundenem Pferdeschwanz. Hinter ihr konnte Cassie die große Eingangshalle mit opulenten Wandbehängen und einer riesigen Holztreppe am anderen Ende sehen.

Das Hausmädchen sah sich um, als die Tür zufiel.

Sofort spürte Cassie die Präsenz von Streit. Sie konnte die Spannung in der Luft fühlen wie einen näherkommenden Sturm; sie war in der nervösen Haltung des Mädchens, dem Knallen der Tür und den weitentfernten, chaotischen Schreien, die in Stille übergingen, erkennbar. Ihr Inneres zog sich zusammen und sie überkam der übermächtige Wunsch, wegzurennen, dem Fahrer nachzueilen und ihn zurück zu rufen.

Stattdessen blieb sie stehen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich bin Cassie, das neue Au-Pair. Die Familie erwartet mich.“

„Heute?“ Das Mädchen wirkte besorgt. „Einen Moment.“ Als sie ins Haus eilte, hörte Cassie sie rufen: „Monsieur Dubois, bitte kommen Sie schnell.“

Eine Minute später eilte ein kräftiger Mann mit dunklem Haar, das im Ansatz bereits grau wurde, ins Foyer. Sein Gesicht war verzerrt. Als er Cassie an der Tür warten sah, blieb er ruckartig stehen.

„Du bist schon hier?“, sagte er. „Meine Verlobte meinte, du kommst erst morgen früh.“

Er drehte sich zu einer jungen Frau mit blond gebleichtem Haar, die ihm gefolgt war. Sie trug ein Abendkleid und ihr attraktives Gesicht war angespannt.

„Ja, Pierre. Ich habe die E-Mail ausgedruckt, als ich in der Stadt war. Die Agentur meinte, der Flug lande um vier Uhr morgens.“ Sie drehte sich zu einem verzierten Holztisch, schob einen venezianischen Briefbeschwerer aus Glas beiseite und fuchtelte abwehrend mit einem Blatt. „Hier. Siehst du?“

Pierre schielte auf die Seite und seufzte.

„Da steht vier Uhr nachmittags, nicht vormittags. Der Fahrer, den du gebucht hast, kannte offensichtlich den Unterschied.“ Er drehte sich zu Cassie und streckte seine Hand aus. „Ich bin Pierre Dubois. Das ist meine Verlobte, Margot.“

Das Dienstmädchen stellte er nicht vor. Stattdessen keifte Margot sie an, das Zimmer gegenüber den Kinderzimmern herzurichten und das Mädchen eilte davon.

„Wo sind die Kinder? Schon im Bett? Sie sollten Cassie kennenlernen“, sagte Pierre.

Margot schüttelte den Kopf. „Sie essen zu Abend.“

„So spät? Habe ich dir nicht gesagt, dass an Schultagen früher zu Abend gegessen werden soll? Sie haben zwar Ferien, sollten aber dennoch bereits im Bett sein, um ihre Routine nicht zu verlieren.“

Margot starrte ihn an und zuckte ärgerlich mit den Schultern, bevor sie mit klackernden Stöckelschuhen in den Gang zu ihrer Rechten stiefelte.

„Antoinette?“, rief sie. „Ella? Marc?“

Sie wurde von donnernden Füßen und lauten Rufen belohnt.

Ein dunkelhaariger Junger rannte in das Foyer und hielt eine Puppe an den Haaren. Er wurde dicht von einem jüngeren, pummeligen Mädchen verfolgt, das laut weinte.

„Gib mir meine Barbie zurück!“, schrie sie.

Sie kamen rutschend ins Stehen, als sie die Erwachsenen sahen und der Junge rannte zur Treppe. Dabei verfing sich seine Schulter an der gebogenen Seite einer großen, blau-goldenen Vase.

Cassie schlug die Hände schockiert über dem Mund zusammen, als die Vase auf ihrem Sockel taumelte und dann auf dem Boden zerbarst. Bunte Glassplitter verteilten sich auf dem dunklen Holzboden.

Die Schockstille wurde von Pierres wütendem Bellen gebrochen.

„Marc! Gib Ella ihre Puppe zurück.“

Schlurfend und schmollend bewegte sich Marc an dem Trümmerhaufen vorbei. Widerwillig gab er Pierre die Puppe, der sie an Ella überreichte. Ihr Schluchzen verstummte und sie glättete die Haare der Puppe.

„Das war eine Durand Vase“, zischte Margot den Jungen an. „Antik. Unersetzlich. Hast du keinen Respekt für die Besitztümer deines Vaters?“

Er schwieg zur Antwort nur missmutig.

„Wo ist Antoinette?“, fragte Pierre und klang frustriert.

Margot sah nach oben und als Cassie ihrem Blick folgte, sah sie ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen am oberen Ende der Treppe. Sie schien einige Jahre älter als ihre Geschwister zu sein. Sie trug ein elegantes und perfekt gebügeltes Kleid und wartete mit einer Hand an der Brüstung, bis sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Familie hatte. Dann kam sie mit erhobenem Kinn die Treppe hinunter.

Erpicht darauf, einen guten Eindruck zu machen, räusperte Cassie sich und versuchte sich an einer freundlichen Begrüßung.

„Hallo Kinder. Mein Name ist Cassie. Es freut mich sehr, hier zu sein und nach euch sehen zu dürfen.“

Ella lächelte schüchtern zurück, während Marc unerbittlich gen Boden starrte. Antoinette sah sie lange und herausfordernd an. Dann, ohne ein Wort, wandte sie ihr den Rücken zu.

„Bitte entschuldige mich, Papa“, sagte sie zu Pierre. „Ich habe noch Haussaufgaben zu erledigen.“

„Natürlich“, sagte Pierre und Antoinette stolzierte wieder die Treppe hinauf.

Cassie spürte, wie ihr Gesicht vor Scham glühte, so bewusst abgelehnt worden zu sein. Sie fragte sich, ob sie etwas sagen, die Situation bereinigen oder Antoinettes unhöfliches Verhalten irgendwie erklären sollte. Aber sie war nicht in der Lage, die passenden Worte zu finden.

Margot murmelte wütend. „Ich hab’s dir doch gesagt, Pierre. Die Teenagerlaunen beginnen bereits.“ Cassie bemerkte, dass sie nicht als einzige von Antoinette ignoriert worden war.

„Wenigstens macht sie ihre Hausaufgaben, obwohl ihr niemand dabei hilft“, konterte Pierre. „Ella, Marc, warum stellt ihr euch Cassie nicht anständig vor?“

Kurze Stille. Offensichtlich würde sich hier niemand ohne Diskussion vorstellen. Aber vielleicht konnte sie die Spannung mit einigen Fragen auflösen.

„Also, Marc, ich kenne zwar deinen Namen, aber ich wüsste nur zu gerne, wie alt du bist“, sagte sie.

„Ich bin acht“, murmelte er.

Es war leicht, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Pierre auszumachen. Das widerspenstige Haar, das starke Kinn, die hellblauen Augen. Sie runzelten sogar die Stirn auf ähnliche Art und Weise. Die anderen Kinder hatten auch dunkles Haar, aber Ella und Antoinette hatten feinere Gesichtszüge.

„Und Ella, wie alt bist du?“

„Ich bin fast sechs“, verkündete Ella stolz. „Ich habe am Tag nach Weihnachten Geburtstag.“

„Das ist ein prima Tag, um Geburtstag zu haben. Ich hoffe, das bedeutet, dass du extra viele Geschenke bekommst.“

Ella lächelte überrascht, als hätte sie diesen Vorteil bisher nicht bedacht.

„Antoinette ist die älteste. Sie ist zwölf“, sagte sie.

Pierre klatschte in die Hände. „Okay, jetzt ist Schlafenszeit. Margot, zeig Cassie das Haus, nachdem du die Kinder zu Bett gebracht hast. Sie muss wissen, wie sie sich hier zurechtfinden kann. Aber mach schnell. Wir müssen um sieben los.“

„Ich muss mich noch fertig machen“, antwortete Margot säuerlich. „Du kannst die Kinder ins Bett bringen. Und ruf einen Butler für dieses Chaos. Ich werde Cassie das Haus zeigen.“

Pierre atmete scharf ein, sah zu Cassie und presste dann die Lippen zusammen. Sie nahm an, dass ihre Anwesenheit ihn dazu verleitet hatte, seine Worte hinunterzuschlucken.

„Ab ins Bett“, sagte er und die zwei Kinder folgten ihm unwillig die Treppen hinauf. Sie freute sich, zu sehen, dass Ella sich umdrehte und ihr kurz zuwinkte.

„Komm mit mir, Cassie“, befahl Margot.

Cassie folgte Margot durch die Tür zu ihrer Linken und fand sich in einer formellen Lounge mit exquisiten, glanzvollen Möbelstücken und Wandteppichen wieder. Der Raum war groß und kühl, im riesigen Kamin brannte kein Feuer.

„Diese Lounge wird selten benutzt und die Kinder sind hier nicht erlaubt. Der Hauptspeisesaal befindet sich dahinter, dort gelten dieselben Regeln.“

Cassie fragte sich, wie oft der massive Mahagonitisch benutzt wurde. Er wirkte makellos und sie zählte sechzehn Stühle mit hohen Rücken. Drei weitere Vasen, die der ähnelten, die Marc zerbrochen hatte, standen auf dem dunkel polierten Sideboard. Sie konnte sich keine fröhlichen Essensunterhaltungen an diesem nüchternen und stillen Ort vorstellen.

Wie musste es sich anfühlen, in einem solchen Haus aufzuwachsen? Mit dem Wissen, dass manche Räume wegen Möbeln, die beschädigt werden konnten, tabu waren? Sie nahm an, ein Kind könnte das Gefühl haben, weniger wert zu sein als ein Möbelstück.

„Wir nennen dies den Blauen Raum.“ Es war eine kleinere Lounge mit marineblauen Tapeten und großen Glastüren. Cassie vermutete, dass diese auf eine Veranda oder in einen Innenhof führten, aber es war dunkel und sie konnte im Glas lediglich die Reflektion der gedämmten Lichter des Zimmers erkennen. Sie wünschte sich für das Haus Lampen mit einer höheren Wattzahl – die Räume waren allesamt trüb beleuchtet und in jeder Ecke lauerten die Schatten.

Ihr fiel eine Skulptur ins Auge. Der Sockel der Marmorstatue war zerbrochen worden, also lag sie mit dem Gesicht nach oben auf einem Tisch. Die Gesichtszüge wirkten leer und unbeweglich, als bedecke der Stein das Gesicht eines toten Menschen. Die Extremitäten waren klobig und einfach geschnitzt. Cassie zitterte und mied den unheimlichen Anblick.

„Das ist eines unserer wertvollsten Stücke“, informierte Margot sie. „Marc hat es letzte Woche umgeworfen. Wir werden es bald reparieren lassen.“

Cassie dachte an die zerstörerische Energie den Jungen und die Art und Weise, wie seine Schulter zuvor an der Vase hängengeblieben war. War es ein reiner Unfall gewesen? Oder hatte er das unbewusste Bedürfnis verspürt, das Glas zu zerbrechen, um in einer Welt, wo Besitztümer Priorität haben zu schienen, bemerkt zu werden?

Margot führte sie auf gleichem Weg zurück. „Die Zimmer in diesem Flur bleiben verschlossen. Die Küche befindet sich in dieser Richtung zur Rechten, dahinter sind die Quartiere der Bediensteten. Zur Linken befindet sich außerdem ein kleiner Salon und der Raum, wo wir als Familie essen.“

Auf dem Weg zurück passierten sie einen grau gekleideten Butler mit Besen, Kehrschaufel und Bürste. Er stellte sich zur Seite, als sie an ihm vorbeigingen, aber Margot beachtete ihn überhaupt nicht.

Der Westflügel war wie das Spiegelbild zum Ostflügel. Große, abgedunkelte Räume mit exquisiten Möbelstücken und Kunstwerken. Leer und leise. Cassie zitterte und sehnte sich nach einem gemütlichen, hellen Licht oder dem vertrauten Geräusch eines Fernsehgeräts. Wenn so etwas in diesem Haus überhaupt existierte. Sie folgte Margot die riesige Treppe in den zweiten Stock hinauf.

„Der Gästeflügel.“ Drei makellose Schlafzimmer mit Himmelbetten, die von zwei geräumigen Gesellschaftszimmern separiert wurden. Die Zimmer waren ordentlich und unpersönlich wie Hotelzimmer und die Bettlaken sahen aus, als hätte man sie glattgebügelt.

„Und hier ist der Familienflügel.“

Cassies Stimmung hellte sich auf. Endlich ein Teil des Hauses, in dem Leute lebten.

„Das Kinderzimmer.“

Zu ihrer Verwirrung warte ein weiterer leerer Raum auf sie, der lediglich eine hohe Krippe mit vergitterten Seiten beherbergte.

„Und hier sind die Schlafzimmer der Kinder. Unsere Suite befindet sich am Ende des Ganges um die Ecke.“

Drei geschlossene Türen. Margots Stimme verebbte und Cassie nahm an, dass sie nicht nach den Kindern sehen wollte – nicht einmal, um Gute Nacht zu sagen.

„Das ist Antoinettes Zimmer, hier ist Marcs und Ellas ist unserem am nächsten. Dein Zimmer liegt gegenüber dem von Antoinette.“

Die Tür stand offen und zwei Dienstmädchen beeilten sich, das Bett zu machen. Das Zimmer war riesig und eiskalt; die einzigen anderen Möbelstücke waren zwei Lehnsessel, ein Tisch und eine große, hölzerne Garderobe. Schwere, rote Vorhänge verhüllten die Fenster. Ihr Koffer war am Fuß ihres Bettes abgestellt worden.

„Du wirst die Kinder hören, wenn sie weinen oder rufen – bitte kümmere dich dann um sie. Morgen früh müssen sie um acht Uhr angezogen und fertig sein. Sie werden nach draußen gehen, also suche ihnen warme Kleidung heraus.“

„Das werde ich, aber …“ Cassie nahm allen Mut zusammen. „Könnte ich etwas zu essen bekommen? Ich habe im Flugzeug zum letzten Mal etwas gegessen.“

Margot starrte sie perplex an und schüttelte dann den Kopf.

„Die Kinder haben früh zu Abend gegessen, weil wir ausgehen. Die Küche ist jetzt geschlossen. Morgen um sieben wird Frühstück serviert. Kannst du bis dahin warten?“

„Ich – ich nehme an.“ Ihr war schlecht vor Hunger und die Süßigkeiten in ihrer Tasche, die eigentlich für die Kinder gedacht waren, plötzlich eine unwiderstehliche Versuchung.

„Und ich muss der Agentur mailen und sie wissen lassen, dass ich angekommen bin. Wäre es möglich, das W-Lan-Passwort zu erhalten? Mein Handy hat hier kein Netz.“

Nun wurde Margots Blick leer. „Wir haben kein W-Lan und es gibt hier kein Handynetz. Das Haustelefon befindet sich in Pierres Arbeitszimmer. Um eine E-Mail zu senden, musst du in die Stadt gehen.“

Ohne auf Cassies Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging in Richtung ihres Schlafzimmers.

Auch die Dienstmädchen waren verschwunden; sie hatten Cassies Bett in kühler Perfektion hinterlassen.

Sie schloss die Tür.

Niemals hätte sie sich träumen lassen, Heimweh zu verspüren. Aber in diesem Moment sehnte sie sich nach einer freundlichen Stimme, dem Geplapper des TV-Geräts und dem Chaos eines gefüllten Kühlschranks. Teller in der Spüle, Spielzeug auf dem Boden, YouTube-Videos auf dem Handy. Das glückliche Chaos einer normalen Familie. Ein Leben, von dem sie sich vorgestellt hatte, ein Teil werden zu dürfen.

Stattdessen befand sie sich bereits in einem bitteren und komplizierten Konflikt. Sie war nie in der Position gewesen, sofort mit den Kindern Freundschaft zu schließen – nicht mit den Familiendynamiken, die sich bereits abgespielt hatten. Dieser Ort war Schauplatz eines Krieges und während sie möglicherweise in der jungen Ella eine Alliierte finden konnte, fürchtete sie, dass Antoinette ihr gegenüber bereits feindlich gestimmt war.

Das Deckenlicht, das zuvor noch geflackert hatte, versagte plötzlich ganz. Cassie durchsuchte ihren Rucksack nach ihrem Handy, packte im Taschenlampenlicht so viel aus, wie sie konnte und schloss es schließlich an die einzige, sichtbare Steckdose am anderen Ende des Raumes an. Dann stolperte sie durch die Dunkelheit zurück in ihr Bett.

Kalt, beklommen und hungrig kletterte sie zwischen die kühlen Laken und zog sie bis zum Kinn nach oben. Sie hatte erwartet, sich nach dem Treffen mit der Familie hoffnungsvoller und optimistischer zu fühlen. Doch stattdessen zweifelte sie an ihrer Fähigkeit, mit ihnen klar zu kommen und fürchtete sich vor dem kommenden Tag.




Kapitel vier


Die Statue stand in Cassies Türrahmen und war von Dunkelheit umhüllt.

Die leblosen Augen und auch der Mund waren geöffnet, als sie sich auf sie zubewegte. Die haarfeinen Risse um die Lippen weiteten sich, dann begann das ganze Gesicht, auseinanderzufallen. Marmorfragmente regneten nach unten und rasselten auf dem Boden.

„Nein“, flüsterte Cassie, aber bemerkte dann, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war in ihrem Bett gefangen, ihre Arme und Beine erstarrt, obwohl ihr panischer Verstand sie anflehte, zu verschwinden.

Die Statue kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu, während Steinsplitter von ihren Extremitäten fielen. Die Skulptur begann, zu schreien; es war ein hohes und dünnes Geräusch. Dabei sah sie, was sich unter der Marmorhülle verbogen hatte.

Das Gesicht ihrer Schwester. Kalt, grau, tot.

„Nein, nein, nein!“, rief Cassie und ihre eigenen Rufe weckten sie.

Der Raum war kohlrabenschwarz und sie hatte sich zu einem zitternden Ball zusammengerollt. Sie setzte sich panisch auf und suchte nach einem Lichtschalter, den es nicht gab.

Es war ihre schlimmste Angst … die, die sie tagsüber zu verdrängen versuchte, sich aber immer wieder in ihre Albträume schlich. Die Angst, dass Jacqui verstorben war. Warum sonst hätte ihre Schwester einfach damit aufgehört, sich zu melden? Warum hatte sie seit Jahren weder Briefe noch Anrufe erhalten?

Vor Angst und Kälte zitternd realisierte Cassie, dass das Geräusch der klappernden Steine tatsächlich von den Regentropfen stammte, die im Wind wehten und gegen das Fensterglas trommelten. Und sie hörte ein weiteres Geräusch. Das Schreien eines Kindes.

„Du wirst die Kinder hören, wenn sie weinen oder rufen – bitte kümmere dich dann um sie.“

Cassie war verwirrt und orientierungslos. Sie wünschte, ein Nachttischlicht anschalten und sich ein paar Minuten nehmen zu können, um sich zu beruhigen. Der Traum war so real gewesen, dass sie noch immer das Gefühl hatte, darin gefangen zu sein. Doch das Schreien musste bereits begonnen haben, als sie noch schlief – vielleicht hatte es ihren Albtraum sogar ausgelöst. Sie wurde dringlich gebraucht und musste sich beeilen.

Sie schob die Decke von sich und entdeckte, dass das Fenster nicht vollständig verschlossen gewesen war. Regen war durch die Öffnung gedrungen und der untere Bereich der Bettdecke war tropfnass. Sie stieg aus dem Bett und in die Dunkelheit und begab sich in die Richtung, wo sie ihr Handy vermutete.

Eine Wasserpfütze auf dem Boden hatte die Fliesen in Eis verwandelt. Sie rutschte aus, verlor den Halt und landete mit einem schmerzhaften Knall auf ihrem Rücken. Ihren Kopf stieß sie sich an dem Bettgestell an und dann sah sie nur noch Sterne.

„Verdammt“, flüsterte sie, setzte sich auf die Knie und wartete darauf, dass sich Kopfschmerz und Schwindel legten.

Sie krabbelte über den Boden und tastete nach ihrem Handy, mit der Hoffnung, dass es dem Wasser nicht zu nahe gekommenwar. Zu ihrer Erleichterung war diese Seite des Zimmers trocken geblieben. Sie schaltete die Taschenlampe an und stellte sich unter Schmerzen auf die Füße. Ihr Kopf hämmerte und ihr Shirt war klatschnass. Sie zog es aus und ersetzte es mit den ersten Kleidungsstücken, die sie finden konnte – Jogginghosen und ein graues Oberteil. Barfuß eilte sie aus dem Zimmer.

Mit dem Handylicht suchte sie an den Wänden nach einem Lichtschalter, aber konnte keinen finden. Vorsichtig folgte sie dem Taschenlampenstrahl in Richtung des Schreiens und gelangte schließlich zu dem Zimmer, das der Suite der Dubois am nächsten lag. Ellas Zimmer.

Cassie klopfte schnell und ging hinein.

Endlich, Licht. Im Glühen der Deckenbeleuchtung konnte sie das Einzelbett sehen, das in der Nähe des Fensters stand. Ella hatte ihre Decken von sich getreten und schrie im Schlaf, wo sie die Dämonen ihres Traums bekämpfte.

„Ella, wach auf!“

Cassie schloss die Tür und setzte sich auf die Bettkante. Sie nahm das Mädchen an den Schultern und fühlte, dass sie zitterte. Ihr dunkles Haar war matt und ihr Pyjamaoberteil verdreht. Sie hatte ihre blaue Decke ans Bettende getreten und fror vermutlich furchtbar.

„Wach auf, alles ist gut. Es ist nur ein Traum.“

„Sie kommen, um mich zu holen!“, schluchzte Ella und versuchte, sich aus ihrem Griff zu lösen. „Sie kommen, sie warten an der Tür!“

Cassie hielt sie fest und schob sie in eine sitzende Position. Dann zog sie ein Kissen hinter ihren Rücken und glättete ihr Oberteil. Ella zitterte vor Angst und Cassie fragte sich, ob ihr Albtraum ein wiederkehrender war. Was ging in Ellas Leben vor, das einen so realen Terror in ihren Träumen auslösen konnte? Das kleine Mädchen war total traumatisiert und Cassie hatte keine Ahnung, wie sie sie am besten beruhigen konnte. Sie erinnerte sich nur ungenau an Jacqui, ihre Schwester, die mit einem Besen imaginäre Monster aus einem Schrank gewischt hatte. Aber die Angst hatte ihre Wurzeln in der Realität gehabt. Die Albträume hatten begonnen, nachdem Cassie sich während der betrunkenen Wut ihres Vaters in einem solchen Schrank versteckt hatte.

Sie fragte sich, ob auch Ellas Angst in einem realen Ereignis begründet war. Sie musste versuchen, das herauszufinden, aber fürs erste war es wichtig, sie davon zu überzeugen, dass die Dämonen verschwunden waren.

„Niemand ist hinter dir her. Alles ist gut. Sieh selbst. Ich bin hier und das Licht ist an.“

Ella öffnete die Augen. Tränenerfüllt starrte sie Cassie für einen Moment an, dann drehte sie ihren Kopf und fokussierte ihren Blick auf etwas hinter ihr.

Von ihrem eigenen Albtraum verängstigt und Ellas Beharren, „sie“ sehen zu können, beunruhigt, sah sich Cassie schnell um. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als die Tür polternd aufging.

Margot stand mit den Händen in den Hüften im Türrahmen. Sie trug ein türkisfarbenes Seidengewand und ihr blondes Haar war locker geflochten. Ihre perfekten Gesichtszüge wurden nur von Mascara-Überresten getrübt.

Sie tobte vor Wut und Cassie spürte, wie ihre Eingeweide sich zusammenzogen.

„Warum hat das so lange gedauert?“, keifte Margot. „Ellas Schreien hat uns aufgeweckt, das ging stundenlang so! Wir waren lange aus – wir bezahlen dich nicht dafür, unseren Schlaf zu stören!“

Cassie starrte sie an, von der Tatsache verwirrt, dass Ellas Wohlergehen vermutlich nicht von Wichtigkeit war.

„Es tut mir leid“, sagte sie. Ella klammerte sich an sie und es war ihr unmöglich, aufzustehen und ihrer Arbeitgeberin gegenüberzutreten. „Ich kam sofort, als ich sie gehört habe. Aber das Licht in meinem Zimmer ist durchgebrannt, es war stockdunkel, also habe ich eine Weile gebraucht, um …“

„Ja, zu lange – und das ist deine erste Warnung! Pierre arbeitet lange und wird wütend, wenn die Kinder ihn wecken.“

„Aber …“ Mit einer Welle der Entschlossenheit begann Cassie zu sprechen. „Hätten Sie nicht nach Ella sehen können, als Sie sie schreien hörten? Es ist meine erste Nacht und ich kenne mich im Dunkeln nicht aus. Ich werde mich bessern, das verspreche ich, aber es ist Ihr Kind, das einen Albtraum hatte.“

Margot machte einen Schritt auf Cassie zu, ihr Gesicht war angespannt. Kurz dachte Cassie, sie würde ihr eine bissige Entschuldigung entgegenschleudern, sodass sie gemeinsam eine angestrengte Waffenruhe finden konnten.

Aber das geschah nicht.

Stattdessen zog Margot blitzschnell ihre Hand heraus und schlug Cassie hart ins Gesicht.

Cassie biss einen Aufschrei zurück und blinzelte ihre Tränen weg, während Ellas Schreien eskalierte. Ihre Wange brannte, ihre Kopfbeule pochte und ihr Verstand drehte sich, als sie realisierte, dass ihr Arbeitgeber gewalttätig war.

„Vor dir hat ein Küchenmädchen deine Aufgaben erledigt. Wir haben viele Bedienstete, das wird auch in Zukunft kein Problem sein. Das ist deine zweite Warnung. Ich toleriere weder Faulheit noch Widerworte von Angestellten. Eine dritte Warnung wird eine sofortige Kündigung mit sich ziehen. Und jetzt bring das Kind zum Schweigen, damit wir endlich etwas Schlaf bekommen.“

Sie marschierte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Verzweifelt nahm Cassie Ella in die Arme und war unglaublich erleichtert, als ihre lauten Schluchzer leiser wurden.

„Es ist okay“, flüsterte sie. „Alles ist gut, mach dir keine Sorgen. Nächstes Mal werde ich den Weg schneller finden und eher bei dir sein. Möchtest du, dass ich heute Nacht bei dir schlafe? Wir können das Nachttischlicht anlassen, um besonders sicher zu sein?“

„Ja, bitte bleib hier. Du kannst mir dabei helfen, sie aufzuhalten“, flüsterte Ella. „Und lass das Licht an. Ich glaube nicht, dass sie es mögen.“

Das Zimmer war in neutralen Blautönen eingerichtet, doch die Nachttischlampe mit ihrem pinken Schirm war hell und beruhigend.

Selbst als sie Ella tröstete, fühlte Cassie den Drang, sich zu übergeben und realisierte, dass ihre Hände furchtbar zitterten. Sie schob sich unter die Decken und war froh über ihre Wärme, weil ihr eiskalt war.

Wie konnte sie für jemanden arbeiten, der sie vor den Kindern verbal und körperlich angegriffen hatte? Es war undenkbar, unverzeihlich und brachte zu viele eigene Erinnerungen zurück, die sie verdrängt hatte. Am Morgen würde sie sofort packen und verschwinden.

Aber … sie hatte noch keine Bezahlung erhalten. Sie würde bis zum Monatsende warten müssen, um überhaupt Geld zu haben. Sie konnte nicht einmal die Fahrt zum Flughafen, geschweige denn die Kosten einer Ticketänderung, bezahlen.

Außerdem waren da die Kinder.

Wie konnte sie sie in den Händen dieser gewalttätigen, unvorhersehbaren Frau lassen? Sie brauchten jemand, der sich um sie kümmerte – vor allem die kleine Ella. Sie konnte nicht hier sitzen, sie trösten, ihr versprechen, dass alles gut werden würde und dann am nächsten Morgen einfach verschwinden.

Mit einem Gefühl der Übelkeit stellte Cassie fest, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte nicht gehen. Sie war finanziell und moralisch dazu verpflichtet, zu bleiben.

Sie würde versuchen müssen, den Balanceakt, den Margots Temperament darstellte, zu bewältigen, um eine dritte und letzte Abmahnung zu vermeiden.




Kapitel fünf


Cassie öffnete die Augen und starrte verwirrt gegen die unvertraute Zimmerdecke. Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren und zu realisieren, wo sie war – in Ellas Bett, wo das Morgenlicht durch eine Lücke im Vorhang schien. Ella schlief noch tief und fest und war halb unter der Decke vergraben. Cassies Hinterkopf hämmerte, als sie sich bewegte und der Schmerz erinnerte sie an die Geschehnisse der vergangenen Nacht.

Rasch setzte sie sich auf. Sie erinnerte sich an Margots Worte, die brennende Ohrfeige und die erhaltenen Warnungen. Ja, es war ihre Schuld gewesen, nicht sofort bei Ella gewesen zu sein. Aber was danach geschah, war nicht fair gewesen. Als sie versucht hatte, für sich einzustehen, war sie nur noch weiter bestraft worden. Vielleicht sollte sie die Hausregeln in Ruhe mit der Familie Dubois besprechen, um sicherzugehen, dass so etwas nicht noch einmal passierte.

Warum hatte ihr Wecker noch nicht geklingelt? Sie hatte ihn für halb sieben gestellt, um pünktlich um sieben beim Frühstück erscheinen zu können.

Cassie checkte ihr Handy und sah schockiert, dass ihr Akku leer war. Die andauernde Netzsuche musste ihn überstrapaziert haben. Sie kletterte leise aus dem Bett, ging zurück in ihr Zimmer, verband ihr Handy mit dem Netzstecker und wartete nervös darauf, dass es sich anschalten ließ.

Sie fluchte leise, als sie sah, dass es fast halb acht war. Sie hatte verschlafen und musste nun die Kinder so schnell wie möglich aufwecken und für den Tag vorbereiten.

In Ellas Zimmer zog Cassie hektisch den Vorhang auf.

„Guten Morgen“, sagte sie. „Es ist ein wunderschöner, sonniger Tag und Zeit fürs Frühstück.“

Doch Ella wollte nicht aufstehen. Es musste sie einiges an Anstrengung gekostet haben, nach ihrem Albtraum wieder einzuschlafen und sie war nun miesmutig gelaunt. Mürrisch und müde klammerte sie sich unter Tränen an ihre Bettdecke. Schließlich erinnerte sich Cassie an die Süßigkeiten, die sie mitgebracht hatte und versuchte, Ella mit Bestechung aus dem Bett zu kriegen.

„Wenn du in fünf Minuten fertig bist, bekommst du eine Schokolade.“

Doch die Bemühungen waren noch nicht zu Ende, denn Ella weigerte sich, anzuziehen, was Cassie ihr ausgesucht hatte.

„Ich will heute ein Kleid anziehen“, sagte sie beharrlich.

„Aber Ella, dir wird kalt werden, wenn wir nach draußen gehen.“

„Mir egal. Ich will ein Kleid anziehen.“

Cassie schaffte es schließlich, einen Kompromiss zu finden: Sie wählte das wärmste Kleid aus, das sie finden konnte – ein langärmeliges Kordkleid mit langen Strümpfen und gefütterten Stiefeln. Ella saß mit schwingenden Beinen und bebender Unterlippe auf dem Bett. Ein Kind geschafft, zwei waren noch übrig.

Als sie Marcs Schlafzimmertür öffnete, war sie erleichtert, zu sehen, dass er wach war und das Bett bereits verlassen hatte. In seinen roten Pyjamas spielte er mit einer Soldatenarmee, die auf dem Boden ausgebreitet war. Die große Spielzeugkiste unter seinem Bett war geöffnet; Modellautos und eine ganze Herde Bauernhoftiere lagen darum verteilt. Cassie musste vorsichtig gehen, um nirgendwo draufzutreten.

„Hallo, Marc. Sollen wir frühstücken gehen? Was möchtest du anziehen?“

„Ich möchte überhaupt nichts anziehen. Ich will spielen“, antwortete Marc.

„Du kannst danach weiterspielen, aber nicht jetzt. Wir sind spät dran und müssen uns beeilen.“

Zur Antwort brach Marc in lautes Weinen aus.

„Bitte weine nicht“, bettelte Cassie und war sich den kostbaren Minuten bewusst, die unterdes verstrichen. Aber seine Tränen wurden immer dramatischer, als labe er sich an ihrer Panik. Er weigerte sich, den Pyjama auszuziehen und selbst das Versprechen auf Schokolade konnte seine Meinung nicht ändern. Als sie am Ende ihrer Weisheit war, stülpte Cassie ihm Hausschuhe über die Füße, nahm ihn an die Hand, steckte einen Soldaten in seine Pyjamatasche und überzeugte ihn davon, ihr zu folgen.

Als sie an Antoinettes Tür klopfte, erhielt sie keine Antwort. Das Zimmer war leer und das Bett gemacht. Ein pinkes Nachthemd lag ordentlich gefaltet auf dem Kissen. Hoffentlich hatte Antoinette sich selbst zum Frühstück begeben.

Pierre und Margot saßen bereits im informellen Esszimmer. Pierre trug einen Anzug und Margot war ebenfalls elegant gekleidet. Ihr Makeup war makellos und ihr Haar lag in Locken auf ihren Schultern. Als Cassie den Raum betrat, blickte sie auf und Cassie spürte, wie ihr Gesicht rot wurde. Schnell half sie Ella auf einen Stuhl.

„Entschuldigen Sie die Verspätung“, erklärte sie beschämt und defensiv. „Antoinette war nicht in ihrem Zimmer; ich bin mir nicht sicher, wo sie ist.“

„Sie hat bereits gefrühstückt und übt nun Klavier.“ Pierre gestikulierte mit seinem Kopf in Richtung des Musikzimmers, bevor er sich einen weiteren Kaffee einschenkte. „Hör mal. Vielleicht erkennst du das Stück – ‚The Blue Danube.‘“

Cassie hörte tatsächlich eine akkurate Interpretation eines bekannt klingenden Stücks.

„Sie ist sehr talentiert“, erwiderte Margot, aber ihr saurer Ton passte nicht zu ihren Worten. Cassie sah sie nervös an. Würde sie die Ereignisse der vergangenen Nacht kommentieren?

Doch als Margot sie kühlschweigend ansah, fragte sich Cassie plötzlich, ob ihre Erinnerungen ihr einen Streich spielten. Ihr Hinterkopf war hart und geschwollen, wo sie auf den Boden gefallen war. Doch als sie ihre linke Wange berührte, bezeugte nichts die brennende Ohrfeige. Oder war es die rechte Seite gewesen? Es machte ihr Angst, sich nicht daran erinnern zu können. Sie drückte ihre Finger auf die rechte Gesichtsseite, konnte aber auch dort keine Druckempfindlichkeit feststellen.

Cassie überzeugte sich davon, sich nicht mit den Einzelheiten aufzuhalten. Sie war nach dem harten Schlag auf den Kopf und einer möglichen Gehirnerschütterung unmöglich bei klarem Verstand gewesen. Margot hatte sie definitiv bedroht, aber Cassies Fantasie hatte möglicherweise die Ohrfeige erfunden. Schließlich war sie nach ihrem eigenen Albtraum erschöpft und desorientiert gewesen.

Marc unterbrach ihre Gedanken, als er Frühstück verlangte. Sie schenkte den Kindern Orangensaft ein und servierte ihnen Essen von den Tabletts. Ella bestand darauf, die letzten Schinken- und Käsescheiben zu nehmen, also begnügte sich Cassie mit einem Marmeladencroissant und geschnittenen Früchten.

Margot trank schweigend ihren Kaffee und sah aus dem Fenster. Pierre blätterte durch die Zeitung, während er seinen Toast zu Ende aß. War das Frühstück hier immer so leise? Kein Elternteil machte Anstalten, sich mit ihr, den Kindern oder einander zu beschäftigen. Lag es daran, dass sie in Schwierigkeiten war?

Vielleicht sollte sie die Konversation beginnen und die Dinge wieder in Ordnung bringen. Sie musste sich offiziell dafür entschuldigen, Ella erst so spät gehört zu haben. Aber sie würde auch klarstellen, dass ihre Bestrafung ihrer Meinung nach nicht fair gewesen war.

Cassie überlegte sich genau, was sie sagen wollte.

„Ich weiß, dass ich mich letzte Nacht zu spät um Ella gekümmert habe. Ich habe ihr Weinen nicht gehört. Nächstes Mal werde ich meine Schlafzimmertür offenstehen lassen. Allerdings habe ich das Gefühl, nicht fair behandelt worden zu sein. Ich wurde bedroht und belästigt und erhielt innerhalb von wenigen Minuten zwei Verwarnungen. Können wir also bitte die Hausregeln besprechen?“

Nein, das würde nicht funktionieren – viel zu direkt. Sie wollte nicht feindselig rüberkommen und brauchte deshalb einen sanfteren Ansatz. Einen, der Margot nicht noch feindlicher stimmen würde.

„Ist der Morgen heute nicht wunderschön?“

Ja, das war ein guter Anfang, mit dem sie der Unterhaltung eine positive Richtung geben konnte. Von dort würde sie langsam auf das eigentliche Thema übergehen.

„Ich weiß, dass ich mich letzte Nacht zu spät um Ella gekümmert habe. Ich habe ihr Weinen nicht gehört. Nächstes Mal werde ich meine Schlafzimmertür offenstehen lassen. Allerdings würde ich gerne einige Hausregeln besprechen, die beinhalten, wie wir uns untereinander verhalten und wann Verwarnungen ausgeteilt werden. Ich möchte sichergehen, gute Arbeit zu leisten.“

Cassie räusperte sich nervös und legte die Gabel nieder.

Doch gerade als sie den Mund aufmachen wollte, faltete Pierre seine Tageszeitung zusammen und stand gemeinsam mit Margot auf.

„Habt einen angenehmen Tag, Kinder“, sagte Pierre, als sie den Raum verließen.

Cassie starrte ihnen verwirrt hinterher. Sie hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollte. Man hatte ihr gesagt, dass die Kinder um acht Uhr bereit sein mussten – aber bereit für was?

Es war vermutlich am besten, Pierre nachzugehen und ihn zu fragen. Sie begab sich zur Tür, doch als sie sie erreichte, stieß sie beinahe mit einer lächelnden Frau zusammen, die Personaluniform trug und ein Essenstablett in der Hand hielt.

„Ah – ups. Hier. Gerettet.“ Sie stabilisierte das Tablett und schob die Schinkenscheiben zurück an ihren Ort. „Du bist das neue Au-Pair, oder? Ich bin Marnie, die Hauswirtschafterin.“

„Schön, dich kennenzulernen“, sagte Cassie und realisierte, dass sie die erste lächelnde Person war, der sie heute bereits begegnet war. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, fragte sie: „Ich wollte gerade Pierre fragen, was die Kinder heute vorhaben.“

„Zu spät. Er ist bestimmt bereits weg, sie waren direkt auf dem Weg zum Wagen. Hat er keine Anweisungen hinterlassen?“

„Nein. Nichts.“

Nachdem Marnie das Tablett abgestellt hatte, gab Cassie Marc mehr Käse und nahm sich selbst Toast, Schinken und ein hartgekochtes Ei, um ihren Hunger zu stillen. Ella weigerte sich, den Essensberg auf ihrem Teller aufzuessen und schob ihn lediglich verdrießlich mit der Gabel hin und her.

„Vielleicht kannst du die Kinder selbst fragen“, schlug Marnie vor. „Antoinette wird wissen, ob etwas arrangiert wurde. Ich würde allerdings dazu raten, sie erst nach ihrer Klavierübung zu fragen. Sie mag es nicht, wenn ihre Konzentration gestört wird.“

War es ihre Imagination oder hatte Marnie bei diesen Worten die Augen verdreht? Ermutigt fragte Cassie sich, ob sie wohl Freunde werden könnten. In diesem Haus brauchte sie eine Alliierte.

Aber fürs erste war keine Zeit, um Freundschaften zu schließen. Marnie war offensichtlich in Eile. Sie sammelte leere Teller und dreckige Tabletts ein, während sie Cassie fragte, ob mit ihrem Zimmer alles in Ordnung gewesen sei. Cassie erklärte schnell ihre Probleme und nachdem sie versprochen hatte, die Laken zu wechseln und die Glühbirne noch vor dem Mittagessen auszutauschen, verließ die Hauswirtschafterin das Zimmer.

Die Klaviermusik war verstummt, also begab sich Cassie zum Musikraum in der Nähe des Flures.

Antoinette packte gerade die Notenblätter zusammen. Sie drehte sich um und sah Cassie misstrauisch an, als sie das Zimmer betrat. Sie trug ein makelloses, königsblaues Kleid. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und ihre Schuhe glänzten.

„Du siehst wunderhübsch aus, Antoinette. Die Farbe des Kleides steht dir ausgezeichnet“, sagte Cassie und hoffte, sich mit den Komplimenten bei dem ablehnenden Mädchen beliebt zu machen. „Hast du für heute irgendetwas geplant? Aktivitäten oder etwas anderes?“

Antoinette dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf.

„Heute nicht“, sagte sie entschieden.

„Und Marc oder Ella? Haben die beiden etwas vor?“

„Nein. Morgen hat Marc Fußballtraining.“ Antoinette schloss den Klavierdeckel.

„Gibt es etwas, was du heute gerne machen würdest?“ Vielleicht würde es ihrer Beziehung helfen, Antoinette die Wahl zu überlassen.

„Wir könnten im Wald spazieren gehen. Das machen wir alle gerne.“

„Wo ist der Wald?“

„Etwa zwei oder drei Kilometer an der Straße entlang.“ Das dunkelhaarige Mädchen machte einige vagen Handbewegungen. „Wir können sofort losgehen. Ich kann dir den Weg zeigen, ich muss mich nur kurz umziehen.“

Cassie hatte angenommen, dass sich der Wald auf dem Anwesen befand und war von Antoinettes Antwort überrascht. Aber ein Spaziergang im Wald – das klang nach einer netten und gesunden Outdooraktivität. Cassie war sich sicher, dass Pierre damit einverstanden wäre.


* * *

Zwanzig Minuten später waren sie bereit, loszugehen. Cassie sah auf dem Weg nach unten in jedes Zimmer hinein und hoffte, Marnie oder ein anderes Mitglied des Personals zu treffen, um ihnen zu sagen, wohin sie gingen.

Sie entdeckte niemanden und hatte auch keine Ahnung, wo sie suchen sollte. Antoinette war ungeduldig und sprang vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen. Cassie entschied sich, dass es wichtiger war, ihrer guten Laune zu folgen, vor allem, weil sie ja nicht vorhatten, lange wegzubleiben. Sie verließen die Kieseinfahrt und Antoinette ging voraus.

Hinter einem großen Eichenbaum sah Cassie fünf Ställe, die sie bereits am Vortag entdeckt hatte. Sie ging näher, um sie sich genauer anzusehen und sah, dass sie leer und dunkel waren; die Stalltüren standen offen. Die Koppel war ebenfalls nicht belegt und die Holzlatten teilweise zerbrochen. Das Tor hing aus den Angeln und das Gras wuchs lang und wild.

„Habt ihr hier Pferde?“, fragte sie Antoinette.

„Vor vielen Jahren hatten wir mal welche, aber die gibt es schon lange nicht mehr“, antwortete sie. „Keiner von uns reitet mehr.“

Cassie starrte die verlassenen Ställe an, während sie diese Nachricht verdaute.

Maureen hatte ihr falsche und extremst veraltete Informationen gegeben.

Die Pferde hatten in ihrer Entscheidung, herzukommen, eine große Rolle gespielt. Sie waren ein Anreiz gewesen – der Ort war ihr aufgrund der Tiere besser, ansprechender und lebendiger erschienen. Aber es gab sie schon lange nicht mehr.

Während dem Bewerbungsgespräch hatte Maureen behauptet, sie könne hier reiten lernen. Warum hatte sie die Sachlage falsch dargestellt? Welche Lügen hatte sie ihr sonst noch erzählt?

„Komm schon!“, Antoinette zupfte ungeduldig an ihrem Ärmel. „Wir müssen los!“

Als Cassie sich wegdrehte, fiel ihr ein, dass Maureen keinen Grund gehabt hatte, ihr falsche Informationen zu geben. Ihre übrigen Beschreibungen bezüglich des Hauses und der Familie waren relativ zutreffend gewesen und als Agentin konnte sie lediglich die Fakten weitergeben, die ihr präsentiert worden waren.

Dann muss es Pierre gewesen sein, der gelogen hatte. Und ihr wurde klar, dass das noch problematischer war.

Sobald sie die Biegung hinter sich gelassen hatten und das Schloss außer Sichtweite war, verlangsamte Antoinette ihren Schritt. Keine Sekunde zu früh für Ella, die sich beschwerte, dass ihre Füße wehtaten.

„Hör auf zu jammern“, sagte Antoinette. „Papa sagt immer, du darfst nicht jammern.“

Cassie hob Ella hoch und trug sie, doch sie schien bei jedem Schritt schwerer zu werden. Sie trug bereits einen Rucksack mit den Jacken der Kinder und ihre letzten paar Euros in ihren Seitentaschen.

Marc räuberte vor ihnen, brach Äste von Hecken und warf sie wie Speere auf die Straße. Cassie musste ihn andauernd daran erinnern, sich vom Asphalt fernzuhalten. Er war so unachtsam, dass er sich leicht vor einen entgegenkommenden Wagen werfen könnte.

„Ich habe Hunger!“, beschwerte sich Ella.

Verzweifelt dachte Cassie an ihr unberührtes Frühstück.

„Hinter der nächsten Kurve gibt es einen Kiosk“, sagte Antoinette. „Dort gibt es kalte Getränke und Snacks.“ Sie wirkte an diesem Morgen sonderlich gut gelaunt, auch wenn Cassie keine Ahnung hatte, woran das lag. Aber sie war froh, dass Antoinette den Anschein machte, sich für sie zu erwärmen.

Sie hoffte, in dem Kiosk eine billige Uhr erstehen zu können, da sie ohne Handy keine Ahnung hatte, wie spät es war. Doch der Laden entpuppte sich als Gärtnerei, die Setzlinge, Baby-Bäume und Dünger verkaufte. Der Kiosk an der Ladenkasse bot lediglich Erfrischungsgetränke und Snacks an. Der ältere Ladenbesitzer, der auf einem Barhocker neben dem Gasofen saß, erklärte ihr, dass sie sonst nichts hatten. Die Preise waren unglaublich hoch und sie zählte gestresst ihren dürftigen Geldscheinbündel, um jedem Kind Schokolade und einen Saft zu kaufen.

Während sie bezahlte, rannten die Kinder über die Straße, um die Esel zu begutachten. Cassie rief ihnen nach, zurückzukommen, doch sie ignorierten sie.

Der grauhaarige Mann zuckte mitfühlend mit den Schultern. „Kinder eben. Sie kommen mir bekannt vor. Wohnen Sie in der Nähe?“

„Ja. Das sind die Kinder der Dubois. Ich bin das neue Au-Pair und heute ist mein erster Arbeitstag“, erklärte Cassie.

Sie hoffte auf nachbarschaftliche Bestätigung, doch stattdessen weiteten sich die Augen des Mannes alarmiert.

„Die Dubois? Sie arbeiten für die?“

„Ja.“ Cassies Ängste kamen zurück. „Warum? Kennen Sie sie?“

Er nickte.

„Jeder kennt die Dubois. Und Diane, Pierres Frau, hat manchmal bei mir Pflanzen gekauft.“

Er sah ihr verwundertes Gesicht.

„Die Mutter der Kinder“, erklärte er. „Sie ist letztes Jahr verstorben.“

Cassie starrte ihn mit dröhnendem Kopf an. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte.

Die Mutter der Kinder war verstorben und zwar erst im vergangenen Jahr. Warum hatte ihr niemand davon erzählt? Auch Maureen hatte nichts erwähnt. Cassie hatte angenommen, dass Margot ihre Mutter war, bemerkte aber nun ihre Naivität. Margot war viel zu jung, um die Mutter einer Zwölfjährigen zu sein.

Diese Familie hatte erst kürzlich einen Verlust erlitten, war von einer Tragödie auseinandergerissen worden. Maureen hätte sie darüber aufklären müssen.

Aber Maureen hatte nichts von den Pferden gewusst, weil man es ihr vermutlich nicht erzählt hatte. Mit stechender Angst fragte sich Cassie, ob Maureen auch davon nichts gewusst hatte.

Was war mit Diane geschehen? Wie ging Pierre mit dem Verlust um? Wie hatte dieser die Kinder und die gesamte Familiendynamik beeinflusst? Was hielten sie von Margots Ankunft im Haus? Sie wunderte sich nicht mehr über das angespannte Gefühl, das wie ein Drahtseil in jeder Interaktion innerhalb des Hauses präsent war.

„Das ist – das ist wirklich traurig“, stotterte sie und realisierte, dass der Ladenbesitzer sie neugierig ansah. „Ich habe nicht gewusst, dass sie so kürzlich verstorben ist. Ich nehme an, ihr Tod war für alle eine traumatische Erfahrung.“

Mit tiefem Stirnrunzeln händigte der Mann ihr das Wechselgeld aus und sie steckte die Münzen ein.

„Ich bin mir sicher, Sie kennen den Hintergrund der Familie.“

„Ich weiß nicht viel, würde es also wirklich zu schätzen wissen, wenn Sie mir erzählen könnten, was geschehen ist.“ Cassie beugte sich nervös über den Tresen.

Er schüttelte den Kopf.

„Es ist nicht meine Aufgabe, mehr zu sagen. Sie arbeiten für die Familie.“

Warum machte das einen Unterschied, fragte sich Cassie. Ihre Fingernägel vergruben sich unter ihrer Nagelhaut und ihr wurde bewusst, dass sie ihre alte Stressgewohnheit wieder aufgenommen hatte. Was der ältere Mann ihr erzählt hatte, war besorgniserregend genug – was er sich weigerte, ihr zu sagen, war noch schlimmer. Vielleicht würde er ihr gegenüber offener sein, wenn sie ehrlich mit ihm war.

„Ich verstehe die Situation hier überhaupt nicht und habe Angst, mich übernommen zu haben. Um ehrlich zu sein, hat mir niemand davon erzählt, dass Diane gestorben ist. Ich weiß nicht, was geschehen ist oder wie die Situation davor aussah. Es würde mir wirklich helfen, die Familie besser zu verstehen.“

Er nickte mitfühlend, doch dann klingelte das Telefon in seinem Büro und sie wusste, dass die Gelegenheit vorbei war. Er ging, um zu antworten und schloss die Tür hinter sich.

Enttäuscht drehte sich Cassie vom Tresen weg und schulterte ihren Rucksack, der sich nun zweimal so schwer anfühlte. Vielleicht waren es die zermürbenden Informationen, die der Mann ihr gegeben hatte, die sie nun herunterdrückten. Als sie den Laden verließ, fragte sie sich, ob sie die Möglichkeit haben würde, alleine zurückzukommen, um mit dem alten Mann zu sprechen. Er kannte die Geheimnisse der Familie Dubois und sie hoffte verzweifelt, diese herauszufinden.




Kapitel sechs


Ellas erschrockener Schrei brachte Cassie ruckartig zurück in die Gegenwart. Sie blickte über die Straße und sah zu ihrem Entsetzen, dass Marc durch den Holzzaun geklettert war und nun einer immer größer werdenden Herde haariger, grauer und lehmverkrusteter Esel Gras hinstreckte. Sie legten ihre Ohren an und knabberten aneinander, während sie sich an ihn drängten.

Ella schrie erneut, als einer der Esel Marc anrempelte, sodass dass dieser rücklings auf dem Boden landete.

„Komm raus!“, rief Cassie und rannte über die Straße. Sie beugte sich über den Zaun, packte ihn an seinem T-Shirt und zog ihn zu sich, bevor er totgetrampelt wurde. Hatte das Kind Todessehnsüchte? Sein Shirt war klatschnass und dreckig und sie hatte keinen Ersatz dabei. Zum Glück schien die Sonne, aber sie sah bereits, wie sich im Westen die Wolken sammelten.

Als sie Marc seine Schokolade gab, stopfte er sich den ganzen Riegel in den Mund. Mit vollen Backen lachte er los und spuckte Schokostückchen auf den Boden, dann rannte er mit Antoinette davon.

Ella schob ihre Schokolade beiseite und begann, laut zu weinen.

Cassie nahm das kleine Mädchen wieder auf den Arm.

„Was ist los? Hast du keinen Hunger?“, fragte sie.

„Nein. Ich vermisse meine Mama“, schluchzte sie.

Cassie nahm sie fest in den Arm und spürte Ellas warme Wange an ihrer.

„Es tut mir leid, Ella. Es tut mir so leid. Ich habe eben erst davon gehört. Du musst sie furchtbar vermissen.“

„Ich wünschte, Papa würde mir sagen, wo sie hingegangen ist“, klagte Ella.

„Aber …“ Cassie suchte nach Worten. Der Ladenbesitzer hatte klargemacht, dass Diane Dubois verstorben war. Warum war Ella anderer Ansicht?

„Was hat dein Papa dir erzählt?“, fragte sie vorsichtig.

„Er hat gesagt, dass sie weggegangen ist, wollte aber nicht sagen, wohin. Er hat nur gemeint, dass sie weg ist. Warum ist sie gegangen? Ich will, dass sie zurückkommt!“ Ella drückte ihren Kopf an Cassies Schulter und weinte sich das Herz aus.

Cassies Kopf drehte sich. Ella muss damals vier gewesen sein und hätte sicherlich verstanden, was es bedeutete, zu sterben. Es muss eine Zeit der Trauer und eine Beerdigung gegeben haben. Oder vielleicht nicht?

Sie scheute sich, an die Alternative zu denken. Hatte Pierre Ella bewusst angelogen und ihr den Tod seiner Frau verheimlicht?

„Ella, sei nicht traurig“, sagte sie und rieb ihr zärtlich die Schultern. „Manchmal gehen Leute eben und kommen nicht zurück.“ Sie dachte an Jacqui und fragte sich wieder einmal, ob sie je herausfinden würde, was wirklich mit ihr geschehen war. Das Unwissen war furchtbar. Auch wenn der Tod tragisch war, so war er doch wenigstens abschließend.

Cassie konnte sich nur vorstellen, welche Qual Ella durchmachen musste, indem sie glaubte, dass ihre eigene Mutter sie ohne Abschied einfach verlassen hatte. Kein Wunder, dass sie an Albträumen litt. Sie musste herausfinden, was wirklich geschehen war, falls noch mehr dahintersteckte. Sie war zu schüchtern, um Pierre direkt zu fragen. Solange er das Thema nicht selbst erwähnte, würde sie nicht darauf zu sprechen kommen. Aber vielleicht konnten die anderen Kinder ihr ihre Version erzählen, wenn sie sie zur richtigen Zeit fragte. Vermutlich war das die beste Strategie.

Antoinette und Marc warteten an der Weggabelung. Endlich sah Cassie den Wald. Antoinette musste die Entfernung unterschätzt haben, denn sie waren bestimmt schon fünf Kilometer gegangen. Die Gärtnerei war das letzte Gebäude gewesen, das sie passiert hatten. Die Straße hatte sich in einen schmalen Weg verwandelt; der Asphalt war rissig und kaputt, die Hecken buschig und wild.

„Du und Ella könnt diesen Weg hinuntergehen“, meinte Antoinette und zeigte auf einen überwachsenen Pfad. „Es ist eine Abkürzung.“

Dankbar begab Cassie sich den schmalen Pfad hinunter und schob sich an zahlreichen blattreichen Büschen vorbei.

Bald begann die Haut auf ihren Armen so sehr zu brennen, dass sie aufschrie, weil sie glaubte, von einem Wespenschwarm gestochen worden zu sein. Als sie nach unten sah, bemerkte sie einen geschwollenen Ausschlag auf ihrer Haut, der dort auftrat, wo sie die Büsche berührt hatte. Und dann schrie auch Ella.

„Mein Knie brennt!“

Auf ihrer Haut bildete sich nun ebenfalls ein Ausschlag; die tiefroten Quaddeln waren auf ihrem weichen, hellen Knie gut zu erkennen.

Cassie duckte sich zu spät und ein Zweig schlug ihr gegen das Gesicht. Sofort begann ihr Gesicht, zu brennen und sie schrie alarmiert auf.

Sie konnte Antoinettes schrilles, aufgeregtes Gelächter hören.

„Vergrab deinen Kopf in meiner Schulter“, kommandierte Cassie und legte ihre Arme fest um das kleine Mädchen. Tief ein- und ausatmend marschierte sie den Pfad entlang und schob sich wie blind durch die brennenden Blätter, bis sie endlich eine Lichtung erreichte.

Antoinette schrie vor Schadenfreude und krümmte sich über einen umgestürzten Baumstamm. Marc, von ihrer Heiterkeit angesteckt, tat es ihr gleich. Keinen schienen Ellas aufgebrachte Tränen zu stören.

„Du wusstest, dass der Weg voller Gift-Efeu ist“, beschuldigte Cassie sie, während sie Ella auf den Boden stellte.

„Brennnesseln“, korrigierte Antoinette sie und lachte wieder los. Es war ein hässliches, grausames Geräusch. Das Kind zeigte sein wahres Gesicht und kannte kein Erbarmen.

Die plötzliche Welle der Wut überraschte Cassie. Für einen Moment war ihr einziger Wunsch, Antoinettes arrogantes, kicherndes Gesicht so hart zu schlagen, wie sie konnte. Die Macht ihres Ärgers war furchteinflößend. Sie ging tatsächlich einen Schritt nach vorne und hob ihre Hand, bevor die Vernunft überwog und sie sich, erschrocken von sich selbst, schnell wegdrehte.

Sie öffnete ihren Rucksack und suchte nach ihrer einzigen Wasserflasche. Sie rieb etwas Wasser über Ellas Knie und leerte den Rest über ihre eigene Haut, um das Brennen zu mindern. Aber jedes Mal, wenn sie die geschwollenen Stellen berührte, schien der Schmerz schlimmer zu werden. Sie sah sich nach einem Brunnen um, wo sie den Ausschlag mit kaltem Wasser kühlen konnte.

Aber da war nichts. Dieser Wald war nicht so familienfreundlich, wie sie es erwartet hatte. Es gab keine Bänke und keine Hinweisschilder, keine Mülleimer, Brunnen oder instandgehaltene Wege. Vor ihr lag der uralte, dunkle Wald mit riesigen Birken, Tannen und Fichten, die sich aus dem verwachsenen Dickicht gen Himmel reckten.

„Wir müssen jetzt nach Hause gehen“, sagte sie.

„Nein“, stritt Marc. „Ich will erst entdecken.“

„Das ist kein sicherer Ort für Entdeckungen. Es gibt nicht einmal einen richtigen Weg. Und es ist zu dunkel. Außerdem solltest du jetzt deine Jacke anziehen, sonst bekommst du eine Erkältung.“

„Von wegen – fang mich doch!“ Mit schelmischem Gesichtsausdruck schoss der Junge davon und rannte geschickt zwischen den Bäumen hindurch.

„Verdammt!“ Cassie rannte ihm nach und biss die Zähne zusammen, als sich kantige Zweige in ihre entzündete Haut bohrten. Er war kleiner und schneller als sie und verspottete sie lachend, während er durch das Dickicht rannte.

„Marc, komm zurück!“, rief sie.

Aber ihre Worte schienen ihn nur noch weiter anzutreiben. Sie folgte ihm entschlossen und hoffte, dass er entweder müde werden oder das Spiel aufgeben würde.

Als er stehenblieb, um zu Atem zu kommen und gegen ein paar Tannenzapfen zu treten, holte sie ihn endlich ein. Sie packte ihn fest am Arm, bevor er wieder wegrennen konnte.

„Das ist kein Spiel. Schau, da vorne geht es ziemlich tief runter.“ Der Waldboden vor ihnen senkte sich steil ab und sie konnte fließendes Wasser hören.

„Lass uns jetzt zurückgehen. Es ist Zeit für den Nachhauseweg.“

„Ich will nicht nach Hause gehen“, murrte Marc und schlurfte über den Waldboden, während er ihr folgte.

Ich auch nicht, dachte Cassie und hatte plötzlich Mitgefühl mit dem Jungen.

Aber als sie die Lichtung erreichten, war Antoinette alleine. Sie saß auf ihrer Jacke und flocht sich das Haar über der Schulter.

„Wo ist deine Schwester?“, fragte Cassie.

Antoinette blickte uninteressiert auf.

„Nachdem du gegangen bist, hat sie einen Vogel gesehen und wollte ihm nach. Ich weiß nicht, wo sie dann hingegangen ist.“

Entsetzt sah Cassie Antoinette an.

„Warum bist du nicht mit ihr mitgegangen?“

„Weil du es nicht angeordnet hast“, sagte Antoinette mit kühlem Lächeln.

Cassie atmete tief ein, um eine weitere Welle der Wut unter Kontrolle zu bringen. Antoinette hatte Recht. Sie hätte die Kinder nicht alleine lassen sollen, ohne sie anzuweisen, sich nicht vom Fleck zu bewegen.

„Wo ist sie hin? Zeig mir, wo du sie zuletzt gesehen hast.“

Antoinette zeigte in eine Richtung. „Sie ist dort lang.“

„Ich werde nach ihr suchen.“ Cassie versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. „Du bleibst mit Marc hier. Verlasst unter keinen Umständen diese Lichtung und lass deinen Bruder nicht aus den Augen. Verstanden?“

Antoinette nickte abwesend und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Cassie konnte nur hoffen, dass sie ihren Anweisungen Folge leisten würde. Sie ging zu der Stelle, die Antoinette angedeutet hatte, und formte mit den Händen einen Trichter um ihren Mund.

„Ella?“, schrie sie, so laut sie konnte. „Ella?“

Sie wartete auf eine Antwort oder das Geräusch näherkommender Schritte. Aber nichts. Sie hörte lediglich das stille Rascheln der Blätter im immer stärker werdenden Wind.

Hatte Ella es wirklich geschafft, in ihrer Zeit der Abwesenheit so weit zu laufen, dass sie bereits außer Hörweite war? Oder war ihr etwas zugestoßen?

Als sie in den Wald rannte, überkam sie Panik.




Kapitel sieben


Cassie rannte tiefer in den Wald hinein und im Slalom durch die Baumreihen. Sie rief Ellas Namen wieder und wieder und betete für eine Antwort. Ella könnte überall an, schließlich gab es keinen eindeutigen Weg, dem sie gefolgt sein könnte. Der Wald war dunkel und unheimlich, der Wind wurde immer stärker und die Bäume schienen ihre Rufe zu dämmen. War Ella in eine Schlucht gefallen, gestolpert oder mit dem Kopf gegen einen Stein gestoßen? Hatte ein Landstreicher sie mitgenommen? Die Möglichkeiten waren endlos.

Cassie rutschte moosbewachsene Pisten hinunter und stolperte über Wurzeln. Ihr Gesicht war überall zerkratzt und ihr Hals schmerzte vom Schreien.

Schließlich blieb sie keuchend stehen. Ihr Schweiß fühlte sich im Wind kalt und feucht an. Was sollte sie nun tun? Es wurde langsam dunkel. Sie konnte nicht weitersuchen, wenn sie sich und die Kinder nicht allesamt in Gefahr bringen wollte. Die Gärtnerei war ihre nächste Anlaufstation, wenn sie denn überhaupt noch geöffnet war. Sie konnte dort anhalten, dem Ladenbesitzer erzählen, was geschehen war und ihn bitten, die Polizei zu rufen.

Sie brauchte eine Ewigkeit und mehrere falsche Abbiegungen, um den Weg zurückzufinden, den sie gegangen war. Sie betete, dass die anderen in Sicherheit auf sie gewartet hatten. Und sie hoffte, wo es keine Hoffnung mehr gab, dass Ella vielleicht ihren Weg zurückgefunden hatte.

Aber als sie die Lichtung erreichte, fädelte Antoinette gerade Blätter aneinander und Marc schlief tief und fest auf einem Bett aus Jacken.

Keine Ella.

Sie stellte sich vor, was sie bei ihrer Rückkehr auf dem Gutshof erwartete. Pierre würde wutentbrannt sein – zu Recht. Margot vermutlich einfach nur grausam. Sie stellte sich die Taschenlampen vor, die durch die Nacht leuchteten, während die Gemeinde nach einem Mädchen suchte, das verloren, verletzt oder schlimmer war. Ein Ergebnis ihrer Fahrlässigkeit. Es war ihre Schuld und ihr Versagen.

Das Entsetzen der Situation war zu viel für sie. Sie sank an einem Baum zu Boden, vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und versuchte verzweifelt, ihr Schluchzen zu kontrollieren.

Und dann sagte Antoinette mit heller Stimme: „Ella? Du kannst jetzt rauskommen!“

Cassie blickte auf und beobachtete ungläubig, wie Ella hinter einem umgefallenen Baumstamm hervorkletterte und sich das Laub von ihrem Rock wischte.

„Was …“ Cassies Stimme war rau und zitternd. „Wo warst du?“

Ella lächelte glücklich.

„Antoinette sagte, dass wir Verstecken spielen und dass ich nicht rauskommen darf, wenn du mich rufst – sonst habe ich verloren. Mir ist jetzt kalt, kann ich meine Jacke haben?“

Cassie fühlte sich blind vor Schock. Sie hatte nicht geglaubt, dass sich jemand aus purer Bosheit solch ein Szenario ausdenken konnte.

Es war nicht nur Antoinettes Grausamkeit, die Cassie am meisten erstaunte, sondern ihre Berechnung. Was brachte Antoinette dazu, sie so zu foltern? Und wie konnte sie das in Zukunft verhindern? Von den Eltern war keine Unterstützung zu erwarten. Nettigkeit hatte nicht funktioniert und Wut würde Antoinette nur in die Hand spielen. Antoinette hatte die Kontrolle und das wusste sie.

Unverzeihlich spät machten sie sich auf den Nachhauseweg – und das, nachdem sie keiner Menschenseele gesagt hatte, wo sie waren. Die Kinder waren schmutzig, hungrig, durstig und erschöpft. Cassie fürchtete, dass Antoinette mit ihrem Tun für Cassies sofortige Kündigung gesorgt hatte.

Es war ein langer, kalter und unbequemer Weg zurück zum Schloss. Ella bestand darauf, den gesamten Weg über getragen zu werden und Cassies Arme waren dabei, aufzugeben, als sie endlich das Anwesen erreichten. Marc bildete murrend das Schlusslicht, zu müde, um etwas anderes zu tun, als hin und wieder einen Stein auf die Vögel in den Hecken zu werfen. Selbst Antoinette schien in ihrem Sieg keine Freude zu finden und trottete missmutig nebenher.

Als Cassie an der einschüchternden Haustür klopfte, wurde diese sofort aufgezogen. Vor ihr stand Margot, rot vor Wut.

„Pierre!“, schrie sie. „Sie sind endlich zuhause.“

Cassie begann zu zittern, als sie ärgerliches Stampfen hörte.

„Wo zum Teufel seid ihr gewesen?“, bellte Pierre. „Wie konntest du nur so unverantwortlich sein?“

Cassie schluckte schwer.

„Antoinette wollte in den Wald gehen. Also haben wir einen Spaziergang gemacht.“

„Antoinette – was? Den ganzen Tag? Warum hast du ihr das erlaubt und meine Anweisungen missachtet?“

„Welche Anweisungen?“ Cassie duckte sich unter seinem Zorn und wollte am liebsten wegrennen und sich verstecken, wie sie es als Kind immer getan hatte, wenn ihr Vater einen seiner Wutausbrüche an ihr ausgelassen hatte. Als sie hinter sich blickte, konnte sie sehen, dass die Kinder sich genauso fühlten. Ihre gebeutelten, ängstlichen Gesichter gaben ihr den Mut, den sie brauchte, um Pierre ins Gesicht zu sehen. Und das obwohl ihre Beine zitterten.

„Ich habe eine Notiz an deiner Schlafzimmertür hinterlassen.“ Er gab sich Mühe, mit normaler Stimme zu sprechen. Vielleicht hatte auch er die Reaktion der Kinder bemerkt.

„Ich habe keine Notiz vorgefunden.“ Cassie sah Antoinette an, doch ihre Augen waren gen Boden gerichtet und ihre Schultern gebeugt.

„Antoinette hätte heute in Paris einige Klavierstücke zum Besten geben sollen. Ihr Bus kam um acht Uhr dreißig, aber sie war unauffindbar. Und Marc hatte um zwölf Uhr Fußballtraining in der Stadt.“

Ein kalter Knoten formte sich in Cassies Magengegend, als sie realisierte, wie ernst die Konsequenzen ihrer Handlungen waren. Sie hatte Pierre und auch andere auf schlimmste Weise enttäuscht. Dieser Tag hätte ein Test ihrer Fähigkeiten in der Organisation der Tagespläne der Kinder sein sollen. Stattdessen hatten sie einen ungeplanten Ausflug ins Nirgendwo unternommen und wichtige Aktivitäten verpasst. An Pierres Stelle wäre sie auch wütend gewesen.

„Es tut mir so leid“, murmelte sie.

Sie traute sich nicht, Pierre von den Tricksereien seiner Kinder zu erzählen, auch wenn sie sich sicher war, dass er seine eigenen Vermutungen anstellte. Sie wollte die Kinder davor bewahren, die volle Wucht seiner Wut abzubekommen.

Ein Gong erschallte aus dem Esszimmer und Pierre sah auf seine Armbanduhr.

„Wir werden später darüber sprechen. Bereite jetzt die Kinder fürs Essen vor. Schnell, sonst wird es kalt.“

Schnell war leichter gesagt als getan. Über eine halbe Stunde und weitere Tränen waren notwendig, um Marc und Ella zu baden und in ihre Pyjamas zu stecken. Glücklicherweise zeigte sich Antoinette von ihrer besten Seite und Cassie fragte sich, ob die Konsequenzen ihrer Handlungen sie überforderten. Sie selbst hatte ein Gefühl der Taubheit eingenommen, nachdem der Tag sich zu einer wahren Katastrophe entwickelt hatte. Sie war beim Baden der Kinder klatschnass geworden, hatte aber keine Zeit, selbst zu duschen. Stattdessen zog sie sich ein trockenes Oberteil über und die Quaddeln auf ihren Armen leuchteten wieder auf.

Niedergeschlagen marschierten sie nach unten.

Pierre und Margot warteten in der kleinen Lounge neben dem Esszimmer. Margot nippte an einem Weinglas, während Pierre sich einen weiteren Brandy mit Soda einschenkte.

„Endlich können wir essen“, bemerkte Margot knapp.

Zum Essen gab es eine Fisch-Kasserolle und Pierre bestand darauf, dass die zwei älteren Kinder sich selbst bedienten, während Cassie Ella helfen durfte.

„Sie müssen schon früh die richtige Netiquette lernen“, sagte er und fuhr während dem gesamten Essen fort, sie anzuweisen, wie das richtige Protokoll anzuwenden war.

„Lege deine Serviette auf deinen Schoss, Marc. Nicht zerknüllt auf den Boden. Und deine Ellbogen müssen nach innen gerichtet sein. Ella will nicht von dir in die Seite gestoßen werden, während du isst.“

Der Eintopf war reichhaltig und köstlich und Cassie hatte einen Bärenhunger. Doch Pierres Tiraden reichten, um jedem den Appetit zu verderben. Sie begnügte sich mit kleinen, grazilen Bissen und beobachtete Margot, um zu überprüfen, ob sie selbst auf korrekt französische Art und Weise aß. Die Kinder waren erschöpft und nicht in der Lage, zu verstehen, was ihr Vater ihnen einzutrichtern versuchte. Cassie wünschte sich, Margot würde Pierre erklären, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Pingeligkeit war.

Sie fragte sich, ob Abendessen anders abgelaufen waren, als Diane noch am Leben war. Wie sehr war die Familiendynamik durch Margots Ankunft verändert worden? Ihre eigene Mutter hatte auf stille Weise Konflikte unterbunden, aber mit ihrem Tod waren diese unkontrollierbar ausgebrochen. Vielleicht hatte Diane hier eine ähnliche Rolle gespielt.

„Wein?“ Zu ihrer Überraschung füllte Pierre ihr Glas mit Weißwein, bevor sie ablehnen konnte. Vielleicht war auch das Teil des Protokolls.

Der Wein war wohlriechend und fruchtig und nach nur wenigen Schlucken spürte sie, wie der Alkohol ihre Blutbahnen durchflutete und sie mit Wohlgefühl und gefährlicher Entspannung erfüllte. Schnell stellte sie ihr Glas ab; sie wusste, dass sie sich keine Ausrutscher mehr erlauben konnte.

„Ella, was tust du da?“, fragte Pierre entnervt.

„Ich kratze mein Knie“, erklärte Ella.

„Und warum benutzt du dafür einen Löffel?“

„Meine Fingernägel sind zu kurz, um dranzukommen. Wir sind durch Brennnesseln gelaufen“, sagte Ella stolz. „Antoinette hat Cassie eine Abkürzung gezeigt. Mich haben die Nesseln am Knie erwischt, Cassie in ihrem ganzen Gesicht und an den Armen. Sie hat geweint.“

Margot stellte abrupt ihr Weinglas ab.

„Antoinette! Du hast es wieder getan?“

Cassie blinzelte überrascht, als sie erfuhr, dass dies nicht Antoinettes erste Aktion dieser Art gewesen war.

„Ich …“, begann Antoinette trotzig, doch Margot war unaufhaltsam.

„Du bösartiges, kleines Biest. Du machst doch nur Ärger. Du hältst dich für unglaublich schlau, dabei bist du lediglich ein dummes, fieses, kindisches Mädchen.“

Antoinette biss sich auf die Lippe. Margots Worte hatten ihre kühle Beherrschung aufgebrochen.

„Es ist nicht ihre Schuld“, sagte Cassie plötzlich laut und fragte sich zu spät, ob der Wein möglicherweise eine schlechte Idee gewesen war.

„Es muss sehr schwer für sie sein, mit …“ Sie hielt inne. Sie war kurz davor gewesen, den Tod ihrer Mutter zu erwähnen. Doch Ella glaubte an eine andere Version und sie hatte keine Ahnung, was dahintersteckte. Dafür war nun nicht der richtige Zeitpunkt.

„… so vielen Veränderungen umzugehen“, sagte sie. „Wie auch immer, Antoinette hat mich nicht angewiesen, den Weg zu nehmen. Das habe ich selbst entschieden. Ella und ich waren müde und es sah nach einer guten Abkürzung aus.“

Sie traute sich nicht, Antoinette anzusehen, während sie sprach, für den Fall, dass Margot ein geheimes Einverständnis vermutete. Doch sie schaffte es, Ellas Blick zu erwischen. Sie sah sie verschwörerisch an und hoffte, dass sie verstand, warum Cassie sich auf die Seite ihrer Schwester stellte. Sie wurde mit einem kleinen Nicken belohnt.

Cassie fürchtete, dass diese Verteidigung ihre eigene Situation erschwerte, aber sie hatte etwas sagen müssen. Schließlich wusste sie, wie es war, in einer kaputten Familie aufzuwachsen, wo jederzeit Krieg ausbrechen konnte. Sie verstand die Wichtigkeit eines älteren Vorbilds, das in solchen Situationen Schutz bieten konnte. Wie hätte sie ohne Jacqui die schlimmen Zeiten überstehen können? Antoinette hatte niemanden, der ihr den Rücken stärkte.

„Du stellst dich also auf ihre Seite?“, zischte Margot. „Vertrau mir, das wirst du bereuen – genau wie ich es selbst getan habe. Du kennst sie nicht, wie ich sie kenne.“ Sie zeigte mit einem blutrot lackierten Fingernagel auf Antoinette, die zu schluchzen begonnen hatte. „Sie ist genau wie ihre …“

„Aufhören!“, brüllte Pierre. „Ich dulde keine Streitereien am Esstisch – Margot, halt nun die Klappe, du hast schon genug gesagt.“

Margot sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl krachend nach hinten fiel.

„Ich soll die Klappe halten? Dann werde ich gehen. Aber glaube nicht, dass ich nicht versucht habe, dich zu warnen. Du wirst bekommen, was du verdienst, Pierre.“ Sie marschierte zur Tür, drehte sich dann aber noch einmal um und starrte Cassie mit unverschleiertem Hass an.

„Ihr werdet alle bekommen, was ihr verdient.“




Kapitel acht


Cassie hielt den Atem an, während Margots sich mit wütenden Schritten zurückzog. Als sie die anderen betrachtete, erkannte sie, dass sie nicht die einzige war, die durch den boshaften Ausbruch der blonden Frau in schweigende Stockstarre verfallen war. Marcs Augen waren aufgerissen und seine Lippen eng zusammengepresst. Ella nuckelte an ihrem Daumen und Antoinette blickte mit wortloser Wut in die Leere.

Leise fluchend schob Pierre seinen Stuhl zurück.

„Ich kümmere mich darum“, sagte er und marschierte zur Tür. „Bring die Kinder ins Bett.“

Cassie, erleichtert über die Aufgabe, betrachtete die Teller und Gläser auf dem Tisch. Sollte sie den Tisch abräumen oder die Kinder um Hilfe bitten? Die Spannung im Raum war so dick wie Rauch. Sie sehnte sich nach einer normalen, alltäglichen Familienaktivität wie dem Abspülen von Geschirr, um die Gereiztheit aufzulösen.

Antoinette sah die Richtung ihres Blicks.

„Lass es stehen“, keifte sie. „Jemand wird nachher abräumen.“

Mit gezwungener Heiterkeit sagte Cassie: „Nun, dann ist es Zeit fürs Bett.“

„Ich will nicht ins Bett“, protestierte Marc und schaukelte mit seinem Stuhl nach hinten. Als der Stuhl das Gleichgewicht verlor, schrie er mit vorgetäuschter Furcht auf und hielt sich an der Tischdecke fest. Cassie hechtete zu seiner Rettung. Sie war schnell genug, um den Stuhl vor dem Umkippen zu bewahren, aber zu spät, um Marc daran zu hindern, zwei Gläser umzuwerfen und einen Teller krachend zu Boden zu befördern.

„Nach oben“, befahl sie und versuchte, streng zu klingen. Aber ihre Stimme war durch die Anstrengung hoch und ungleichmäßig.

„Ich will nach draußen gehen“, kündigte Marc an und sprintete auf die Glastür zu. Cassie, die sich daran erinnerte, wie er ihr im Wald ausgebüxt war, sprintete ihm nach. Als sie ihn einholte, hatte er bereits die Tür aufgeschlossen, doch sie war in der Lage, ihn festzuhalten und daran zu hindern, sie zu öffnen. Sie sah ihr Spiegelbild im dunklen Glas. Ein Junge mit rebellischem Haar und einem eigensinnigen Gesichtsausdruck – und sich selbst. Ihre Finger hielten ihn an den Schultern gepackt, ihre Augen groß und nervös, das Gesicht so weiß wie Schnee.

Sich in diesem unerwarteten Moment selbst zu sehen, machte ihr klar, wie gewaltig sie in ihren Pflichten bisher versagt hatte. Seit ihrer Ankunft war ein voller Tag vergangen und sie war nicht eine einzige Minute in Kontrolle gewesen. Sie würde sich selbst etwas vormachen, wenn sie anders denken würde. Ihre Erwartungen, in die Familie hineinzupassen, von den Kindern geliebt oder zumindest gemocht zu werden, hätte nicht unrealistischer sein können. Sie hatten keinen Funken Respekt vor ihr und sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern konnte.

„Schlafenszeit“, wiederholte sie müde. Mit der linken Hand fest auf Marcs Schulter entfernte sie den Schlüssel aus dem Schloss. Sie befestigte ihn an einem Haken, den sie hoch oben an der Wand entdeckt hatte. Dann ging sie mit Marc nach oben, ohne ihn loszulassen. Ella trottete neben ihnen her und Antoinette folgte ihnen bedrückt. Ohne gute Nacht zu sagen knallte sie ihre Schlafzimmertür hinter sich zu.

„Möchtest du, dass ich dir eine Geschichte vorlese?“, fragte sie Marc, doch der schüttelte den Kopf.

„Na schön. Dann ab ins Bett. Wenn du gleich schläfst, kannst du morgen früher aufstehen und mit deinen Soldaten spielen.“

Es war die einzige Motivation, an die sie denken konnte, aber es schien zu funktionieren. Oder die Müdigkeit hatte den Jungen doch endlich eingeholt. Jedenfalls tat er, zu ihrer Erleichterung, wie ihm geheißen. Sie deckte ihn zu und bemerkte, dass ihre Hände vor reiner Erschöpfung zitterten. Wenn er einen weiteren Ausbruchsversuch unternahm, würde sie in Tränen ausbrechen, das wusste sie. Sie war nicht überzeugt, dass er im Bett bleiben würde, aber fürs erste zumindest war ihr Job getan.

„Ich will eine Geschichte.“ Ella zog an ihrem Arm. „Liest du mir eine vor?“

„Natürlich.“ Cassie ging mit in ihr Zimmer und suchte ein Buch aus dem mäßig bestückten Regal aus. Ella sprang ins Bett und hüpfte aufgeregt auf der Matratze herum. Cassie fragte sich, wie oft ihr in der Vergangenheit vorgelesen wurde, da es kein normaler Teil ihrer Routine zu sein schien. Aber vermutlich war nichts ans Ellas Kindheit bisher normal verlaufen.

Sie las die kürzeste Geschichte, die sie finden konnte, doch natürlich Ella forderte eine zweite. Die Worte verschwammen vor ihren Augen, als sie das Ende erreichte und sie klappte das Buch zusammen. Zu ihrer Erleichterung sah Cassie, dass sich Ella durch das Vorlesen beruhigt hatte und eingeschlafen war.

Sie schaltete das Licht aus und schloss die Tür. Als sie den Gang entlanglief, sah sie so leise sie konnte nach Marc. Zum Glück war das Zimmer noch immer dunkel und sie hörte weiches und gleichmäßiges Atmen.

Als sie Antoinettes Tür öffnete, war das Licht noch an. Antoinette saß auf ihrem Bett und schrieb in ein pinkfarbenes Buch.

„Du klopfst, bevor du reinkommst“, schalt sie Cassie. „Das ist eine Regel.“

„Es tut mir leid. Ich verspreche, mich in Zukunft daran zu halten“, entschuldigte sich Cassie. Sie fürchtete, Antoinette würde die gebrochene Regel in eine Diskussion ausweiten, aber stattdessen wandte sie sich wieder ihrem Notizbuch zu und schrieb noch ein paar Worte, bevor sie es schloss.

„Machst du noch Hausaufgaben?“, fragte Cassie überrascht, da ihr Antoinette nicht als jemand vorkam, der Dinge bis zur letzten Minute herauszögerte. Ihr Zimmer war makellos. Die Kleidung, die sie zuvor ausgezogen hatte, lag gefaltet im Wäschekorb und ihr ordentlich gepackter Schulranzen stand unter einem perfekt aufgeräumten, weißen Schreibtisch.

Sie fragte sich, ob Antoinette das Gefühl hatte, dass ihrem Leben Kontrolle fehlte und sie deshalb versuchte, diese in ihrer direkten Umgebung selbst auszuüben. Oder vielleicht versuchte das dunkelhaarige Mädchen zu beweisen, dass sie niemanden brauchte, der sich um sie kümmerte. Schließlich hatte sie klargemacht, die Anwesenheit eines Au-Pairs ganz furchtbar zu finden.

„Meine Hausaufgaben sind fertig. Ich habe in mein persönliches Tagebuch geschrieben“, erklärte Antoinette.

„Machst du das jeden Abend?“

„Nur, wenn ich wütend bin.“ Sie setzte ihrem Stift den Deckel auf.

„Tut mir leid, was heute Abend passiert ist“, meinte Cassie mitfühlend. Sie hatte das Gefühl, sich auf Eis zu bewegen.

„Margot hasst mich und ich hasse sie“, sagte Antoinette und ihre Stimme bebte ein bisschen.

„Ich glaube nicht, dass das stimmt“, protestierte Cassie, aber Antoinette schüttelte den Kopf.

„Das tut es. Ich hasse sie. Ich wünschte, sie wäre tot. Sie hat Dinge wie heute schon öfter zu mir gesagt. Es macht mich so wütend, ich könnte sie umbringen.“

Cassie starrte sie schockiert an.

Es waren nicht nur Antoinettes Worte, sondern die Ruhe, mit der sie diese aussprach. Sie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. War es normal für eine Zwölfjährige, solch mörderische Gedanken zu hegen? Sicherlich wäre es sinnvoll für Antoinette, jemanden zu haben, der ihr dabei helfen konnte, mit ihrem Ärger umzugehen. Eine qualifizierte Person wie einen Berater, einen Psychologen oder gar einen Gemeindepfarrer.

Da aber keine kompetentere Person anwesend war, musste Antoinette eben mit ihr vorliebnehmen.

Cassie durchsuchte ihre eigenen Erinnerungen und versuchte, sich daran zu erinnern, was sie in dem Alter gesagt oder getan hatte. Wie hatte sie reagiert, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Leben außer Kontrolle geriet? Hatte sie je den Wunsch verspürt, jemanden umzubringen?

Plötzlich erinnerte sie sich an eine der Freundinnen ihres Vaters. Elaine, eine Blondine mit langen, roten Fingernägeln und einem hohen, kreischenden Lachen. Sie hassten einander auf den ersten Blick. Während den sechs Monaten, die Elaine in ihrem Leben verbrachte, hatte Cassie sie mit ganzem Herzen verabscheut. Sie konnte sich nicht daran erinnern, sie totgewünscht zu haben, aber sie wollte auf jeden Fall, dass sie aus ihrem Leben verschwand.

Vermutlich war es das gleiche. Antoinette war lediglich direkter.

„Was Margot gesagt hat, war absolut nicht fair“, stimmte Cassie ihr zu, denn das war die Wahrheit. „Aber Menschen sagen, wenn sie wütend sind, Dinge, die sie nicht meinen.“

Natürlich waren Worte, die aus Wut gesprochen wurden, auch meistens wahr, aber in diese Richtung wollte sie jetzt nicht gehen.

„Oh, sie hat es gemeint“, versicherte Antoinette ihr. Sie spielte mit ihrem Stift und drehte den Deckel gewaltsam von links nach rechts.

„Und Papa ist nun immer auf ihrer Seite. Er denkt nur an sie und niemals an uns. Es war ganz anders, als meine Mutter noch am Leben war.“

Cassie nickte mitfühlend. Sie hatte dieselbe Erfahrung gemacht.

„Ich weiß“, sagte sie.

„Woher?“ Antoinette sah sie neugierig an.

„Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war. Mein Vater hat ebenfalls neue Freundinnen – ähm, ich meine Verlobte – mit nach Hause gebracht. Das hat für viel Streit und Abneigung gesorgt. Sie mochten mich nicht, ich mochte sie nicht. Zum Glück hatte ich eine ältere Schwester.“

Hastig korrigierte Cassie sich.

„Ich habe eine ältere Schwester. Ihr Name ist Jacqui. Sie hat meinem Dad Paroli geboten und mich beschützt, wenn es Streit gab.“

Antoinette nickte zustimmend.

„Du hast heute Abend meine Seite ergriffen, das hat noch niemand vorher getan. Danke.“

Sie sah Cassie mit ihren großen, blauen Augen an und Cassie fühlte, wie sie aufgrund dieser unerwarteten Dankbarkeit einen Kloß im Hals bekam.

„Dafür bin ich hier“, sagte sie,

„Tut mir leid, dass ich dich durch die Brennnesseln geschickt habe.“ Sie schielte auf die Quaddeln an Cassies Händen, die noch immer dick und entzündet waren.

„Das ist in Ordnung. Ich verstehe, dass es nur ein Witz war.“ Ihre Augen füllten sich nun mit Tränen, als sie von Verständnis und Mitgefühl überrollt wurde. Sie hatte von Antoinette nicht erwartet, ihre Schutzmauer zu öffnen und verstand genau, wie einsam und verletzlich sie sich fühlen musste. Es war furchtbar, zu denken, dass Antoinette zuvor schon verbal von Margot misshandelt worden war und niemanden gehabt hatte, der ihr den Rücken stärkte. Selbst ihr Vater hatte sich bewusst gegen sie gestellt.

Aber jetzt hatte sie jemanden – Cassie stand hinter ihr und würde sie unterstützen, egal was es kostete. Der Tag war kein völliges Desaster gewesen, wenn es bedeutete, dass sie es geschafft hatte, diesem schwierigen und problembehafteten Kind näherzukommen.

„Versuche jetzt zu schlafen. Ich bin mir sicher, dass morgen früh alles besser aussieht.“

„Ich hoffe es. Gute Nacht, Cassie.“

Cassie schloss die Türe hinter sich, schniefte heftig und wischte sich dann die Nase am Ärmel ab. Sie war überanstrengt und merkte jetzt, wie die Gefühle sie übermannten. Sie eilte den Gang entlang, nahm sich ihren Schlafanzug und begab sich dann zur Dusche.

Als sie unter dem dampfenden Wasserstrahl stand, erlaubte sie sich endlich, die Tränen fließen zu lassen.


* * *

Obwohl das heiße Wasser ihre Emotionen beruhigt hatte, bemerkte Cassie bald, dass ihre Haut erneut in Flammen aufgegangen war. Die Nesselstiche begannen, unerträglich zu jucken. Sie rieb sich hart mit dem Handtuch ab, um dem Jucken Herr zu werden, sorgte aber dadurch lediglich dafür, dass der Ausschlag sich ausbreitete.

Endlich im Bett, fühlte sie sich so unwohl, dass sie nicht einschlafen konnte. Ihr Gesicht und ihre Arme klopften und brannten. Kratzen brachte nur temporäre Besserung und verschlimmerte den Schmerz langfristig sogar.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der sie ohne Erfolg versucht hatte, zu schlafen, gab sich Cassie schließlich geschlagen. Sie brauchte etwas, um ihre Haut zu beruhigen. Das Schränkchen im Duschraum hatte nur einige essentielle Dinge enthalten, aber im Badezimmer hinter Ellas Schlafzimmer hatte sie einen größeren Medizinschrank gesehen. Vielleicht fand sie dort etwas zur Linderung.

Sie lief leise zum Badezimmer, öffnete den Holzschrank und war erleichtert, zu sehen, dass er mit Tuben und Fläschchen gefüllt war. Es musste etwas für Ausschläge geben. Sie las die Labels und kämpfte mit den komplizierten Fremdworten – sie war nervös, mit der falschen Arznei ihre Symptome nur noch zu verschlimmern.

Galmei Lotion. Sie erkannte die Farbe und den Geruch, obwohl das Label anders aussah. Das würde ihre Haut beruhigen.

Sie schüttete sich etwas Flüssigkeit in die offene Hand und rieb sich großzügig damit ein. Sofort spürte sie die kühlende Erleichterung. Sie stellte die Flasche zurück und schloss den Schrank.

Als sie sich umdrehte, um zu ihrem Zimmer zurückzugehen, hörte sie ein Geräusch und blieb stehen.

Ein derber Schrei, dann ein dumpfes Rufen.

Das musste Marc sein. Er war aus dem Bett gestiegen und stiftete in Ellas Zimmer Unruhe.

Sie eilte den Gang entlang, realisierte aber nach nur wenigen Schritten, dass diese Seite des Hauses ruhig war. Die Kinder schliefen.

Da hörte sie es erneut – ein Krachen, ein Stoßen und ein weiterer Schrei.

Cassie erstarrte. Brach jemand in das Haus ein? Ihr Kopf arbeitete auf Hochtouren, als sie an all die Schätze dachte, die sich hier befanden. Zuhause in den USA hätte sie sich in einem Zimmer eingeschlossen und die Polizei gerufen. Aber es gab kein Telefonnetz. Sie musste Pierre alarmieren, die Geräusche schienen sowieso aus dessen Richtung zu kommen.

Mit einer Waffe würde sie sich mutiger fühlen. Sie betrachtete ihr Zimmer. Vielleicht konnte sie den eisernen Schürhaken, der neben dem Kamin stand, verwenden. Es war nicht viel, aber besser als nichts.

Mit dem Schürhaken fest in der Hand lief Cassie auf Zehenspitzen den Gang entlang. Sie ging um die Ecke und stand schließlich vor einer geschlossenen Holztür.

Das musste das Elternschlafzimmer sein – und die Geräusche kamen aus dem Inneren.

Cassie lehnte den Schürhaken gegen die Wand, sodass er leicht zu erreichen war, wenn sie ihn brauchte. Dann beugte sie sich nach vorne und schielte durch das Schlüsselloch.

Das Licht war an. Ihr Blickfeld war eingeschränkt, aber sie konnte eine Person sehen – nein, zwei. Da war Pierre. Sein dunkles Haar glänzte im Licht. Aber was tat er mit seinen Händen? Er hatte sie um etwas gelegt, das er gewaltsam schüttelte. Ein weiterer klagender, würgender Schrei ertönte und sie atmete scharf ein, als ihr klar wurde, dass er den Hals einer Frau umklammert hielt.

Cassies Herz klopfte, als sie die Szene übersetzte, die sie durch das kleine Loch in der Tür beobachten konnte: Pierre war dabei, Margot umzubringen.




Kapitel neun


Cassie stand ruckartig auf. Adrenalin floss durch ihre Adern, als sie die tödliche Szene gedanklich noch einmal abspielte. Starke Hände um einen blassen Hals; panische, würgende Schreie. Sie hatte noch etwas anderes gesehen. Etwas buntes, das sie nicht ausmachen hatte können.

Sie musste um Hilfe rufen – und zwar schnell.

Doch wen? Sie kannte nur die Hauswirtschafterin und hatte keine Ahnung, wo sie sie finden konnte. Wenn sie ihre Zeit damit verschwendete, nach ihr zu suchen, würde Margot sterben. So einfach war das.

Cassie musste selbst etwas unternehmen.

Sie könnte in das Zimmer stürmen und lauthals schreien, um es der blonden Frau durch eine Ablenkung zu ermöglichen, sich zu befreien.

Der Gedanke machte ihr Angst, aber sie versuchte, sich einzureden, dass sie keine andere Wahl hatte. Selbst wenn sich ihre Beine in Wackelpudding und ihre Stimme in ein klägliches Piepsen verwandelten – sie musste es versuchen, sie musste mutig sein.

Als sie nach der Türklinke greifen wollte, hörte sie ein weiteres Geräusch und hielt abrupt inne.

Es war das tiefe Stöhnen der Lust.

Zögerlich beugte sich Cassie nach vorne und schielte erneut durch das Schlüsselloch.

Als sie ihren Kopf hin und her bewegte, um das Beste aus dem eingeschränkten Sichtfeld zu machen, erkannte sie einen bunten Schal. Margots Handgelenke waren zusammengebunden und der Schal an eine Messingstange befestigt, die zum Kopfende des Bettes gehören musste.

Cassie keuchte auf, als sie realisierte, was wirklich vor sich ging.

Es war kein Mord, sondern ein sexuelles Stelldichein – dunkel, gewaltsam und ausgedehnt. Sie konnte sehen, dass Margot versuchte, sich zu befreien. Dies war kein sexy Experiment, sondern sah geradezu gefährlich aus. Und sie war sich absolut nicht sicher, ob es einvernehmlich war, denn Margot schien kein williger Partner zu sein. Vielleicht bestrafte Pierre sie für ihren Ausbruch beim Abendessen oder nutzte diesen zumindest als Entschuldigung für das, was er jetzt aufführte.

Cassie versuchte, sich davon zu überzeugen, dass dies eine Privatangelegenheit war, die sie nichts anging – egal, wie furchtbar es auch wirken mochte. Wenn Pierre oder Margot herausfänden, dass sie ihnen dabei zugesehen hatte, säße sie so richtig in der Klemme. Und sie wollte sich gar nicht erst ausmalen, was geschehen würde, wenn eines der Kinder sie dabei beobachten würde, durchs Schlüsselloch zu schielen.

Cassie bewegte sich vorsichtig zurück, doch schockiert von dem Gesehenen vergaß sie den Schürhaken, den sie an die Wand gelehnt hatte. Mit dem Fuß stieß sie dagegen und er krachte laut auf die Marmorfliesen.

Das Stöhnen hörte unvermittelt auf. Nach einem kurzen Moment der Stille rief Pierre mit säuerlicher Stimme.

„Was war das? Wer ist da?“

Er hatte sie gehört. Und das plötzliche Quietschen der Bettfedern sowie das Stampfen seiner Füße auf den Dielenbrettern verrieten ihr, dass er auf dem Weg war.

Cassie hob den Schürhaken auf und floh durch den Gang. Sie rannte so schnell und leise wie möglich und betete, dass Pierre sich wenigstens die Zeit nehmen würde, eine Robe oder Hausschuhe anzuziehen. Sie musste sich einfach außerhalb des Sichtfelds befinden, wenn er die Tür öffnete. Wenn er sie sah – oder auch nur vermutete, dass sie dort gewesen war – hatte sie einen riesigen Berg Ärger am Hals.

Sie bog um die Ecke und kam auf den Marmorfliesen ins Rutschen. Verzweifelt hielt sie sich an der Wand fest, um nicht hinzufallen. Ihr Finger bog sich schmerzhaft zurück und sie schluckte einen Aufschrei nach unten. Hinter sich hörte sie, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde. Und dann erkannte sie die schnellen Schritte Pierres, die durch den Gang donnerten.





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